Kapitel 19

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Jonathan ergriff sofort die Chance, schnappte sich seine Tasche und lief zur Tür. "Na los Freak, als ob der noch Jemandem Bescheid gibt.", rief Jonathan und wollte nun die Tür öffnen. Er drückte die Klinke herunter und zog vergeblich an der Tür. "Was?", fragte er erschrocken und rüttelte an der Tür. Sie schien sich nicht zu öffnen. Erschrocken schaute ich zu ihm. Mit seinem Fuß drückte er gegen die Wand und versuchte die Tür mit seiner ganzen Kraft zu öffnen. "Sie geht nicht auf.", rief er frustriert und griff sich in seine Haare. Schnell lief ich zu ihm und vergewisserte mich selbst. Sie geht nicht auf. Okay, ruhig bleiben. Es kommt ja gleich jemand. Während ich die Tür weiter probierte zu öffnen, wobei ich mir bewusst war, dass es sinnlos war, denn Jonathan war viel stärker und hatte es nicht geschafft, lief er zum Fenster. Verzweiflung machte sich in mir breit. Ich wollte doch gleich zu Mom. "Warum ist Nachsitzen nochmal im fucking 3. Stock? Bei dem aus scheiß Sicherheitsgründen die Fenster nicht richtig aufgehen!" Jonathan war außer sich und rüttelte an dem Fenster, doch man konnte es nur auf Kipp öffnen. "Jonathan, das hat keinen Sinn. Es kommt gleich bestimmt jemand.", stotterte ich und lief zu ihm. "Ich ruf die Schule an.", sagte er genervt und wählte die Nummer. Man hörte es wählen und wählen, aber es ging niemand heran. "Fuck!", rief er wütend und versuchte es wieder und wieder. Doch niemand hob ab. Langsam wurde mir immer klarer, dass ich hier mit Jonathan gefangen war und ich wahrscheinlich keine Chance haben würde Mom zu sehen. Wenn uns niemand findet, komme ich nicht pünktlich nach Hause und kann nicht kochen. Dann bringt mich mein Onkel um. Es gab noch keinen Tag, an dem ich Mom nicht besucht hatte. Während Jonathan weiter versuchte die Schule zu erreichen und an der Tür um Hilfe rief, wurde ich immer panischer und konnte mich kaum aus meiner Gedankenflut befreien. Ich wollte es mir zwar nie eingestehen, aber ich besuchte Mom auch jeden Tag, weil ich Angst habe, es könnte der letzte Besuch sein. Ich muss zu ihr. Ich muss sie sehen. Ich muss hier raus. Panik baute sich in mir auf. Meine Gedanken kreisten immer lauter und meine Finger begannen zu zittern. Ich muss zu Mom. Ich hatte nicht bemerkt, dass Jonathan aufgehört hatte, um Hilfe zu rufen und mich stattdessen besorgt musterte. "Abby?", ich hörte ihn kaum, meine Gedanken waren so laut. Ich muss hier raus. Ich muss doch zu Mom. "Hey Abby!" Jonathans Stimme wurde lauter und er schüttelte mich vorsichtig. "Hör mir zu, wir kommen hier raus. Alles wird gut.", versuchte er mich zu beruhigen. Aus tränengefüllten Augen schaute ich zu ihm herauf. "Ich, ich m-muss hier r-raus" "Wir kommen hier raus. Alles wird gut.", wiederholte er beruhigend. Ich versuchte tief durch zu atmen und seiner Stimme zu lauschen. "Ein und aus, Abby. Wir kommen hier raus." Ich nickte und langsam entspannte sich mein Körper etwas und ich beruhigte mich. Besorgt sah er mich weiter an. "Geht es?" Ich nickte unsicher. "Ich probiere nochmal, ob ich jemanden erreichen kann." Ich nickte wieder, denn ich traute meiner Stimme noch nicht. Vorsichtig setzte ich mich auf den nächstbesten Stuhl und beobachtete Jonathan. Doch anhand seines verzweifelten Gesichtsausdrucks war deutlich, das niemand abnahm. Plötzlich knurrte mein Magen und ich schaute peinlich berührt auf meinen Bauch. Ich traute mich nicht aufzuschauen, denn wahrscheinlich amüsierte er sich köstlich darüber. Aber ich hatte mich gewaltig geirrt, denn plötzlich hielt Jonathan einen Schokoriegel vor meine Nase. "Hier ess, bevor du mich auf isst.", sagte er lächelnd und reichte mir den Riegel. Unsicher ergriff ich ihn. "Na los.", forderte er mich lachend auf und im nächsten Moment stürzte ich mich auf den Riegel. Ich hatte so Hunger. Amüsiert sah er mir zu, weshalb meine Wangen wahrscheinlich feuerrrot anliefen. "Warum musstest du so dringend hier heraus? Hast du Platzangst?", fragte er interessiert und setzte sich lässig auf den Lehrerstuhl, der zugleich der bequemste Stuhl im Raum war. Was soll ich sagen? Ich wusste es nicht, also nickte ich einfach. Dann habe ich halt Platzangst. Er verdrehte genervt die Augen. "Abby, mittlerweile solltest du wissen, dass ich es erkenne, wenn du lügst. Du bist sehr schlecht darin. Ich weiß auch, dass du Mr. Kellington angelogen hast." Ich seufzte. "Warum willst du das überhaupt wissen?", fragte ich verwirrt und stotternd. Er zuckte die Schultern und sah für einen Moment nachdenklich aus. "Weil du ein Rätsel bist, Abby." Ich war mehr als irritiert, aber vor allem über den Ernst in seiner Stimme. "Du redest nicht, du hast keine Freunde, du ziehst dir nur viel zu große alte Sachen an, du trägst immer nur diesen geflochtenen Zopf, du hast stets gute Noten und wehrst dich nie. Von Anfang an hast du immer eingesteckt und behandelst trotzdem alle nett und liebevoll, die dich ansprechen. Du bist sogar zu mir nett, obwohl ich dir viel zu oft das Leben zur Hölle gemacht habe. Du isst nie was, aber nachdem du bereitwillig den Schokoriegel gegessen hast, vermute ich, dass sich hinter deinem Verhalten keine Essstörung verbirgt. Du versteckst dich. Die Frage ist warum." Ich schaute ihn an und war verwundert, dass er all dies über mich wusste. Natürlich stammen die meisten seiner Aussagen aus der normalen Beobachtung eines Menschen, aber scheinbar hatte er sich die Zeit genommen mich zu beobachten und das war schon sehr erstaunlich in Anbetracht der Tatsache, dass er mich eigentlich für den letzten Dreck hält oder sich zumindest immer so verhalten hat, dass man glaubt, dass er so denkt. "Du brauchst mir nicht dein Leben zu erklären, Abby, aber ich weiß, dass in deinem Leben etwas gewaltig nicht stimmt und du mit niemanden darüber redest." So langsam fühlte ich mich erdrückt, fast schon nackt. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass er mich diese Dinge fragt und so viel über mich weiß, wo ich doch versuchte all das zu verstecken. "Und ich weiß, ich bin der Letzte, dem du vertrauen würdest, denn ich habe dir nie einen Grund dafür gegeben, aber bitte versuch es. Erklär mir dein Leben oder nur ein Teil. Ich habe das Gefühl ein Stein so groß wie der Mount Everest liegt auf deinem Herzen und du trägst ihn schon viel zu lang ganz allein." Erste Tränen liefen meine Wangen herunter. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Es waren so viele Emotionen auf einmal. Angst, weil er so viel über mich wusste. Wut auf mich, dass ich all das nicht besser vor seinen Augen verstecken konnte. Scham, dass er noch mehr wissen könnte und Scham, dass er so viel wusste. Angst ihm zu vertrauen und Angst mich jemanden anzuvertrauen. Zweifel ihm vertrauen zu können und Zweifel, ob er mich verstehen würde. Die ganzen Emotionen begannen mich zu überrollen. Ich fühlte mich gerührt, dass er für mich da sein wollte, wo es doch sonst kein anderer war und doch war da eine Stimme in meinem Hinterkopf, die mich warnte. Was ist, wenn Jonathan alles über mich weiter erzählt, die Informationen nutzt um mich zu demütigen? Was ist, wenn er nur ein Spiel mit mir spielt? Aber er klang so ernst und das brachte all meine Zweifel ins Wanken. Plötzlich spürte ich, wie immer mehr Tränen über meine Wangen rollten. Jonathan war sofort aufgestanden und setzte sich besorgt zu mir. "Bitte Abby, rede mit mir." Verzweifelt schaute ich ihn an. "Such dir aus, was du mir erzählst.", versuchte er es weiter. Innerlich rang ich mit mir. Wie sollte ich mich überwinden ihm etwas zu erzählen vor allem so etwas persönliches? Wie sollte ich dem Jungen vor mir vertrauen, der mich Monate lang vor der ganzen Schule gedemütigt und verletzt hatte? Was sollte ich ihm überhaupt erzählen? Was war am wenigsten schlimm? Er würde nicht nachlassen, doch irgendwas in mir gab mir das Gefühl, dass er es ernst meint und mir wirklich helfen will. Seine eisblauen Augen fixierten die meinen und plötzlich strahlte das Blau so viel Wärme aus, wo sonst nur Kälte zu finden war.

Ephemeral danceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt