Kapitel 20

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Er macht mich wahnsinnig und allein diese Diskussion in meinen Gedanken und die Idee mich ihm überhaupt anzuvertrauen, ließ mich stark an meinem Urteilsvermögen zweifeln. Dieser Mensch hatte mir so oft weh getan, mich so oft gedemütigt und mir gezeigt, dass ich nichts wert bin und doch ist er zugleich der einzige Mensch, der mich scheinbar verstehen möchte, der wissen möchte, warum es mir schlecht geht. Ich schaute in seine Augen, die mich noch immer mit so viel Sorge und Wärme ermutigend ansahen. "Vor etwa sechs Monaten hatten meine Eltern einen schweren Autounfall. Dad war sofort tot und Mom liegt seitdem im Koma.", begann ich stotternd zu erzählen. Es war so lange her, dass ich es jemand gesagt hatte. Meine Finger zitterten und es wurden immer mehr Tränen. Geschockt sah er mich an und zugleich trug sein Blick so viel Mitgefühl. Es war kein gequälter Ausdruck wie Mitleid ihn hervorrief, nein, es war ein echter und warmer Ausdruck in seinen Augen. "Ich, ich b-besuche Mom jeden T-Tag im K-Krankenhaus." Ich schluckte, doch heute würde wohl der erste Tag sein, an dem ich sie nicht sehen könnte. "Möchtest du deshalb gehen?", fragte er zögerlich und hatte schlau eins und eins zusammen gezählt. Ich nickte. "Die Besucherzeit ist festgelegt und ich muss nach der Schule zum Krankenhaus laufen, dann bleiben mir nur zwei Stunden mit ihr und heute wäre es dank des Nachsitzens leider nur eine Stunde gewesen, doch die wird mir jetzt auch genommen.", stotterte ich und hoffte, dass ihm diese Details über mich genügen würden. Es war jetzt schon unheimlich persönlich. "Dann habe ich dich so oft im Krankenhaus gesehen, weil du deine Mutter besuchst.", schlussfolgerte er. Ich nickte und wischte mir einmal über das Gesicht, aber die Tränen kullerten immer weiter. Ich schaute die ganze Zeit starr auf meinen Schoß. Ich traute mich einfach nicht ihn anzusehen, viel zu groß war die Angst, dass er nun voller Mitleid zu mir sehen könnte oder noch schlimmer voller Spott. Doch wieder irrte ich mich, denn seine Hand ergriff zaghaft meine Zittrige und umschloss sie warm und weich. Verblüfft schaute ich auf. Er sah mich noch immer ermutigend an. Ihm war bewusst, dass es nicht das Ende der Geschichte ist, doch es war meine Entscheidung, wie viel ich preis geben würde. "Ich wohne seitdem Unfall bei meinem Onkel. Er ist nicht sehr reich. Ich spare jeden Cent für meine Mom für die Rechnungen vom Krankenhaus. Ich möchte sie nicht auch noch verlieren.", stotterte ich und konnte mir zum Schluss ein herzzerreißendes Schluchzen nicht verkneifen. Ich wusste nicht, warum die Gefühle so aus mir heraus brachen, aber es war, als hätte er die Mauer um mich herum zum Einstürzen gebracht, die ich mein ganzes Leben um mich errichtete und nur einigen Menschen Zutritt zu mir erlaubte. Nun weinte ich richtig, tausende Tränen liefen meine Wangen hinunter, ich schluchzte und zitterte. Ich war ein Häufchen Elend. Ohne etwas zu sagen, zog mich Jonathan sanft hoch. Wir standen uns nur kurz gegenüber, denn im nächsten Moment hatten mich seine starken Arme umschlungen und vorsichtig an sich gezogen. Ich erwiderte die Umarmung zuerst nicht, ich war viel zu verwirrt und überrollt von den starken Emotionen. Doch er hielt mich, er hielt mich einfach nur fest und das, obwohl er mich monatelang gedemütigt hatte. Minuten vergingen und er löste sich nicht. Die ganzen aufgestauten Tränen liefen meine Wangen in Flüssen herunter, aber er beschwerte sich nicht. Kein Laut kam über seine Lippen. Er hielt mich einfach nur sanft in seinen Armen, wie ein Fels in der Brandung. Langsam entspannte sich mein Körper und das Zittern meiner Finger ließ nach, stattdessen klammerte ich mich an seinen Pullover und er ließ es zu. Mein Körper schmiegte sich an ihn. Mein Kopf lag auf seiner Brust, unter der ich leise sein Herz regelmäßig schlagen hörte. Es beruhigte mich. Seine ganze Präsenz, seine Nähe, seine Umarmung entspannten mich und ließen mich frei atmen. Ich fühlte mich zu meinem großen Erstaunen unheimlich wohl in seinen Armen. Als mein Schluchzen leiser wurde, strich er gedankenverloren dreimal durch mein Haar und über meinen Rücken. Ich bekam Gänsehaut und wurde nervös. Vorsichtig löste ich mich von ihm. Mit großen Augen sah ich ihn an. Ich war schockiert über die Gefühle, die seine Umarmung in mir ausgelöst hatten und noch mehr war ich geschockt, dass er mich umarmt hatte. "D-danke.", sagte ich ehrlich und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. Ich konnte es mir nicht erklären, aber ich fühlte mich leichter. Er hatte es wirklich geschafft, dass es mir besser ging. Auf seinen Lippen bildete sich sein echtes Lächeln. Dann blitzen seine weißen Zähne auf und seine Augen leuchten noch heller als sonst. Plötzlich hörte man jemanden an der Tür rütteln und wir sprangen sofort ein Stück weiter auseinander. Dann krachte es und die Tür sprang auf. Neugierig und geschockt sahen wir beide zum Türrahmen, in dem der geschockte Hausmeister und die Reinigungskraft standen. Beide sahen uns entgeistert an. "Was macht ihr hier?", fragte der Hausmeister wütend und irritiert. Wahrscheinlich glaubte er, wir hätten abgeschlossen oder die Tür blockiert. "Mr. Glaser sollte uns beim Nachsitzen beaufsichtigen, aber seine Frau hat angerufen, dass das Baby kommt und dann ist er gegangen. Dabei hat er die Tür zugeknallt und danach, als wir gehen wollten, ging diese besagte Tür nicht mehr auf.", erklärte Jonathan genervt und trug nun wieder diese steinernde Maske. "Oh Gott Howard, die Kinder waren eingesperrt.", rief die Reinigungskraft besorgt und kam herein. Der Hausmeister, dessen Name scheinbar Howard war, schaute uns skeptisch an. "Dann mal schnell mit euch nach Hause.", rief die Reinigungskraft lächelnd und scheuchte uns förmlich aus dem Raum. Wir liefen nun nebeneinander zum Ausgang der Schule. Keiner wagte es die erdrückende Stille, die sich zwischen uns aufgebaut hatte, zu brechen. Neben den Geräuschen unserer Schritte, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Wir schauten beide nachdenklich auf unsere Füße. Würde das Gesagte in dem Raum bleiben? Hatte sich nun etwas zwischen uns geändert? Mag er mich? Ist er weiter für mich da? Oder ist der intime private Moment vorbei und er ist wieder gemein zu mir? Was ist, wenn er mich weiter demütigt? Ich glaube und das fiel mir wirklich schwer mir das einzugestehen, seine Sprüche und Gemeinheiten würden mich nun mehr verletzen. Denn es hatte sich beim Nachsitzen etwas zwischen uns verändert, ob ich es nun zugeben wollte oder nicht. Tief im Inneren wusste ich, dass sich seit letzter Woche mein Bild von ihm komplett gewandelt hatte, dass er eine gute Seite hat, die er leider viel zu wenig zeigt und dass ich eine emotionale Schwäche für diese Seite von ihm entwickelt hatte. Eine Schwäche so groß, dass ich ihm heute etwas anvertraut hatte, von dem ich das Ausmaß für unser zukünftiges Verhältnis nicht erahnen kann. Würde er mich nun weniger ärgern? Oder wird er mich weiter hassen? So viele Fragen kreisten durch meine Gedanken, doch entweder konnte ich sie nicht beantworten oder wollte mir die Antwort nicht eingestehen. So vertieft in Gedanken hatte ich gar nicht bemerkt, dass mich meine Füße bis zum Ausgang getragen haben. Traurig schaute ich zur Uhr. Es ist nur noch eine halbe Stunde Besucherzeit, das schaffe ich mit dem Fußweg zum Krankenhaus nie. Ich lief nach draußen, wo Jonathan bereits stand und mich nervös ansah. Er hatte wahrscheinlich meinen Blick zur Uhr gesehen. Ich wusste nicht, ob ich mich von ihm verabschieden sollte oder ob ich einfach gehen sollte. Die Atmosphäre war noch immer erdrückend angespannt. Soll ich etwas sagen? Nervös sah ich ihn an, doch er erwiderte meinen Blick genauso unsicher. "Ich, ich s-sollte g-gehen.", sagte ich leise und drehte mich um. "Warte Abby!", rief Jonathan, joggte zu mir und blieb vor mir stehen. "Komm, ich fahre dich zum Krankenhaus. Besser 5 Minuten mit deiner Mutter als keine, richtig?" Unsicher sah er mich an. Mein Herz begann schneller zu schlagen und ich konnte es nicht verhindern, dass sich ein riesiges freudestrahlendes Lächeln auf meine Lippen legte. "Das würdest du tun?", fragte ich unglaubwürdig. Er nickte und erwiderte mein Lächeln. "Mein Auto steht da hinten, komm mit.", forderte er mich auf und lief zu seinem Auto. Schnell folgte ich ihm aufgeregt. Ich freute mich so unheimlich. Er würde mich wirklich fahren, damit ich Mom noch sehen könnte. Es war wie Weihnachten und er wusste wahrscheinlich nicht, wie groß das Geschenk für mich war, dass er mir gerade gab.

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