Kapitel 74

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Und ich behielt recht. Komplett übermüdet hatte ich irgendwie die ersten Schulstunden überstanden. In den Pausen lenkten mich Vanessa und ihre Freunde etwas ab. Es war schön, dass ich so nicht immerzu an Jonathan denken musste. Seit gestern Abend ging mir unser Telefonat nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder spielte ich das Gespräch gedanklich nochmal durch und überlegte angestrengt, wie ich ihm alles erklären könnte, ohne, dass er alles missversteht und ohne, dass er wütend wird. Jonathan war heute zu meinem Unmut und zu meinem Glück nicht in der Schule. Innerlich befand ich mich in einem Dilemma. Mein Herz wollte ihn sehen, während mein Kopf total verzweifelt versuchte mich davon zu überzeugen, dass es besser war, dass ich ihn heute nicht sah. So könnte ich mich zumindest konzentriert darauf vorbereiten, was ich ihm alles sagen sollte, denn er brachte mich immerzu durcheinander. Trotz, dass ich mich anfing wohl zu fühlen in der Gegenwart von Vanessa und Anthony, fühlte ich mich trotzdem die meiste Zeit über fehl am Platz. Ich schätzte ihre Bemühungen mich einzubeziehen wirklich sehr, aber mich ließ das Gefühl nicht los, dass ich mich mit Menschen umgebe, die vielleicht eher weniger zu mir passen. Natürlich gab es vor allem bei Vanessa und mir gleiche Interessen wie das Tanzen, aber insgesamt konnte ich zu den meisten Gesprächsthemen kaum etwas beitragen, weil ich mich nicht aus kannte. Also fühlte ich mich trotz aller Mühe immer wieder wie das fünfte Rad am Wagen. Nun stand ich mit Vanessa und Sarah im Kunstraum. Wieder fehlte mein Partner, aber ich wusste ja, dass Jonathan auch zu diesem Unterricht nicht erscheinen würde. Schließlich war er ja gar nicht in der Schule. Mr. Klifford und Ms. Mabel würden gleich die Noten verkünden und uns die Einladungen zu der Spendengala geben, bei der unsere entworfenen Kinderbücher versteigert werden für einen guten Zweck. Ich hatte mir fest vorgenommen, Mr. Klifford gleich davon in Kenntnis zu setzen, dass ich nicht zu den Feierlichkeiten kommen könnte. Beide Lehrer gingen nun von Gruppe zu Gruppe, um alles zu besprechen und zu erläutern. Alle anderen durften sich erst einmal frei beschäftigen. Sarah und Vanessa nutzten die Zeit, um zu besprechen, was sie am Sonnabend zu der Gala tragen würden. Ich hielt mich etwas zurück, denn ich wusste ja, dass ich mich nicht dafür schick machen müsste. "Und Abby, was wirst du zu der Gala anziehen?", fragte mich plötzlich Sarah. Etwas perplex sah ich sie an. "Du gehst doch mit uns hin, oder?", fragte darauf Vanessa. "Ich, ich w-werde n-nicht k-kommen können.", gab ich nun offen zu. "Natürlich, wirst du kommen.", sagte Vanessa entschlossen. "Mein Onkel wird es nicht erlauben, ich habe kein Kleid noch habe ich ein Auto. Also werde ich nicht kommen können.", stotterte ich beschämt. "Also das mit dem Auto und dem Kleid bekommen wir hin.", meinte Sarah sofort grinsend. "Auf jeden Fall.", stimmte Vanessa mit ein. "Nur die Sache mit deinem Onkel könnte schwieriger werden.", murmelte sie nachdenklich und fasste sich dabei ans Kinn. In der Denkerpose verweilte sie jedoch nur kurz. "Mag dein Onkel Football?", fragte sie aufgeregt und schaute mich mit großen Augen an. Etwas verunsichert nickte ich. "Dann habe ich eine Lösung.", sagte sie mit einem teuflischen Grinsen. Noch verwirrter und ängstlicher wie vorher sah ich Vanessa an. "Die Firma von meinem Vater sponsert den Verein und die Firma bekommt immer Freikarten. Ich werde das organisieren, dass dein Onkel, welche bekommt. Dann könntest du zumindest bis elf oder zwölf Uhr bleiben.", erklärte sie ihren Plan aufgeregt. "Du bist genial!", sagte Sarah grinsend. Doch ich fand die gesamte Idee eher heikel. Ich würde unheimlich viel Ärger bekommen, wenn nur irgendein Detail des Plans schief gehen würde. "Dann ist das abgemacht.", sagte Vanessa glücklich ohne mich um meine Zustimmung zu fragen. Gerade, als ich meinen Unmut und meine Angst offenbaren wollte, sprachen mich Mr. Klifford und Ms. Mabel an: "Abby, dann wollen wir mal mit dir über eure Note sprechen. Schließlich nimmt Jonathan mal wieder nicht am Unterricht teil." Ms. Mabel klang ziemlich enttäuscht, als sie ihren Unmut über Jonathans Verhalten Luft machte, aber das konnte ich ihr nicht verübeln. Jonathan hatte unglaubliches Talent, aber kam einfach fast nie zum Unterricht. Damit könnte er sich seine eigene Zukunft zerstören. "Herzlichen Glückwunsch, Abby. Ihr habt die beste Arbeit abgeliefert. Euer Kinderbuch ist wundervoll geworden. Im künstlerischen wie im literarischen Teil bekommt ihr beide eine eins. Damit sollte eure Gesamtnote auch deutlich sein. Ihr habt beide eine eins.", erklärte Mr. Klifford stolz und glücklich zu gleich. "Wow, wie cool!", rief Vanessa fröhlich. Ich wusste dagegen nicht, was ich sagen sollte. Mir fehlten ganz einfach die Worte. "Ihr könnt stolz auf eure Arbeit sein.", fügte Ms. Mabel an. "Hier ist dann deine Eintrittskarte, Abby. Die Veranstaltung beginnt um zwanzig Uhr. Wir bräuchten zur Veranstaltung dann noch eine Unterschrift deines Erziehungsberechtigten auf diesem Zettel.", erklärte Mr. Klifford weiter und reichte mir die Karte sowie den Zettel. Gerade, als ich mitteilen wollte, dass ich nicht kommen würde, schnappte Vanessa beides aus Mr. Kliffords Hand. Sie hatte mein Zögern wohl bemerkt. Nun gab es kein Zurück mehr und mein Bauchgefühl diesbezüglich war kein gutes. Auf dem Weg zu meiner Putzschicht bei Herrn Dr. Klopp diskutierte ich noch immer mit mir selbst, ob ich Vanessa nicht doch noch davon überzeugen könnte, den Plan abzublasen. Meine Versuche zuvor nach Schulschluss waren leider alle gescheitert. Vanessa war felsenfest davon überzeugt, dass ihr Plan genial war und schon nichts schief gehen würde. Doch ich war mir da nicht so sicher. Bei Dr. Klopp angekommen, musste ich mich erneut in den Putzanzug kleiden und die gesamte Praxis säubern und desinfizieren. Mühsam hatte ich meine Finger wund gschrubbt. Im Krankenzimmer von Mom hatte ich versucht mich etwas zu entspannen und meine Gedanken zu ordnen, aber auch diese Mission scheiterte unglücklicherweise. Als ich das Krankenhaus verließ, traf ich auf dem Parkplatz Mr. und Ms. Brenigan. Sie hatten mich zum Glück nicht gesehen, denn sie schienen hitzig miteinander zu diskutieren. Meine Neugier übermannte mich. Schnell versteckte ich mich etwas abseits und begann dem unüberhörbaren Gespräch zu lauschen. "So kann es nicht weitergehen. Er schwänzt dauernd die Schule. Er kommt spät in der Nacht betrunken nach Hause und zerstört unser Haus. Jonathan hat sich nicht unter Kontrolle. Es reicht mir langsam. Ich habe lange nichts dazu gesagt, weil er dein Sohn ist, aber meine Nerven liegen blank. Er ist eine Gefahr für uns und vor allem für dich und das Kind. Was willst du tun, wenn er seine immense Wut nicht mehr an Gegenständen auslässt sondern an dir?" Mr. Brenigan war unheimlich wütend und besorgt. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Doch ich war mir sicher, Jonathan würde seine Gewalt niemals an seiner Mutter auslassen. Schließlich war sie einer der wenigen Menschen, die ihm wirklich am Herzen lagen. "Jonathan würde mich nie verletzen oder angreifen!", verteidigte Ms. Brenigan ihren Sohn tapfer. "Und wenn doch? Ich bin dafür, dass wir ihm endlich Medikamente gegen seine Aggressionsprobleme verschreiben oder ihn auf das Militärinternat schicken, von dem ich dir erzählt habe. Dort würde man ihm endlich Disziplin und Ordnung lehren!" "Steve, es reicht! Er ist mein Sohn und ich entscheide über ihn! Ich werde ihn bestimmt nicht ans andere Ende des Landes schicken für dieses verfluchte Internat." Ms. Brenigan war außer sich, aber nicht nur sie, auch ich spürte die aufkommende Wut durch meine Adern strömen. Wollte er Jonathan los werden? Wieso sollte er auf ein Militärinternat? Das ist doch absoluter Schwachsinn! "Maggie, wir müssen..." "Nein Steve! Und es reicht, ich will das hier nicht weiter mit dir diskutieren!", unterbrach Ms. Brenigan ihren Mann wutentbrannt und drehte sich zu ihrem Auto. Mr. Brenigan stöhnte genervt auf und lief dann zum Krankenhaus zurück. Leise schlich ich mich aus meinem Versteck und lief in die Richtung meines schrecklichen Zuhauses bis plötzlich ein Wagen neben mir rechts heran fuhr.

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