Kapitel 23

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Panik stieg in mir auf, meine Finger zitterten und ich versuchte verzweifelt eine plausible realistische Lüge als Antwort auf seine Frage zu finden. Ich konnte und durfte ihm die Wahrheit nicht sagen, es wäre mein Todesurteil. Durch die große Angst, die durch meine Adern pulsierte, konnte ich mich kaum konzentrieren, was meine kläglichen Versuche eine Lüge zu entwickeln ziemlich behinderte. "Abby, woher stammen die Flecken?", wiederholte Jonathan ernst und schaute noch immer auf meinen Hals. Sein Kiefer war angespannt und sein Blick lag starr auf den Blutergüssen. Erste Tränen der Verzweiflung und Scham tropften auf meine Hose. Was sollte ich ihm nur sagen? Mein Onkel würde mich umbringen, das hat er mehrfach gedroht und ich würde es ihm ohne Zweifel zu trauen. Jonathan schaute auf in meine Augen und sein Blick wurde weicher. "Abby, wer hat dir das angetan?", fragte er nun viel sanfter und ruhiger. Seine rechte Hand strich meine Haare hinter mein Ohr und legte sich ganz zaghaft und vorsichtig auf einen der Blutergüsse. Das Zittern meiner Hände wurde stärker. Seine Finger streichelten sanft über die dünne Haut an meinem Hals. Es ließ mich erschaudern und ich bekam Gänsehaut. Meine Kehle fühlte sich plötzlich ganz trocken an. Er sah mich noch immer ganz intensiv an. Dabei war sein Blick schwer einzuordnen. Viele Emotionen huschten durch seine Augen. Da war Wut, Mitgefühl, Leid, Angst und etwas, dass ich nicht verstand. Ein kurzes aber starkes Leuchten seiner Augen blitzte immer wieder auf. "Ich.", begann ich, doch ich wusste noch immer nicht, was ich ihm sagen sollte. Irgendetwas in mir widerstrebte sich dem Gedanken ihn an zu lügen, andererseits blieb mir keine andere Wahl. "Man hat mich gewürgt.", stotterte ich dann verzweifelt. Ich wusste, es beantwortete keine seiner Fragen, aber es war zumindest die Wahrheit. Wut funkelte in seinen Augen auf. "Wer hat dich gewürgt, Abby?" Seine Stimme klang gedrückt, als würde er verzweifelt die große Wut in sich herunterschlucken, um sie nicht frei zu lassen. Ich schüttelte nur weinend den Kopf. Ein Gedanke war es ihm zu sagen, dass ich auf der Straße überfallen worden bin. Das wäre gar nicht so unwahrscheinlich in dem Viertel von meinem zu Hause, aber noch immer war da dieses starke Gefühl ihn nicht anlügen zu können. Denn da war die große Angst, dass er mich wieder total hassen könnte, wenn er die Lüge bemerkt. "Abby, bitte, wer tut dir das an?", flehte er schon förmlich. Meine Unterlippe zitterte und ich schaute ihm verzweifelt in die Augen. "Ich, ich k-kann n-nicht." Meine Stimme war kaum zuhören. Frustriert schaute er auf den Boden und ließ mich los. Er stand auf und lief wutentbrannt im Zimmer auf und ab. Immer mehr Tränen liefen meine Wangen hinunter, während ich mir zitternd den Schal um machte. Ich traute mich nicht in seine Augen zu sehen. "Warum nicht?", fragte er nun frustriert, blieb jedoch nicht stehen, sondern griff sich durch die Haare, die ihm leicht ins Gesicht fielen. "Ich müsste lügen und ich möchte dich nicht anlügen.", stotterte ich ehrlich und kniff nervös in mein Handgelenk. Noch immer sah ich ihn nicht an, aber aus dem Augenwinkel konnte ich wahrnehmen, dass er abrupt stehen blieb. Sekunden vergingen, doch es fühlte sich an wie elendig lange Minuten. Würde er gehen und mich hier mit meinen aufgewühlten Emotionen allein lassen? Noch immer stand er starr da und ich hielt vor Nervosität den Atem an. Dann drehte er sich plötzlich um, kam zu mir und hockte sich wieder vor mich. Sein Finger legte sich sanft unter mein Kinn und hob es an. Es war das erste Mal, dass ich nicht vor seiner Berührung wegzuckte. Unsere Blicke trafen sich. Sein Ausdruck in den Augen war weicher als noch vor ein paar Minuten. "Dann sag mir wenigstens, ob du in Gefahr bist.", forderte er mich ernst auf. Ich schüttelte den Kopf und seine Haltung entspannte sich. Ich wusste es war gefährlich, es zu verneinen, doch durch Matthews Präsenz in letzter Zeit hatte ich tatsächlich die leise Hoffnung, dass die Schläge abnehmen könnten. Also war es keine richtige Lüge. Plötzlich zog Jonathan mich an sich und drückte mich zärtlich gegen sich. Ich erwiderte die Umarmung, in dem ich meinen Kopf gegen seine starke Brust lehnte. Er hielt mich und ich ließ mich fallen, wie ich es bereits beim Nachsitzen getan hatte. Ich wusste nicht, warum gerade er die Person war, bei der ich mich fallen lassen konnte. Schließlich sprach alles gegen ihn, aber hier in seinen Armen wusste ich, dass er mich hält und auffängt. In seinen Armen fühlte ich mich einfach beschützt und geborgen. Wenn er mich hielt, könnte mir nichts passieren. Mir war bewusst, wie leichtsinnig und lebensmüde diese Gedanken sind, schließlich konnte er mir unheimlich weh tun, doch zugleich gab er mir diese Sicherheit und Geborgenheit, nach der ich mich so lange unbewusst verzerrt hatte. "Niemand darf dir so weh tun.", sagte er ernst und drückte mich zaghaft noch enger an sich, als würde er versuchen damit jegliches Unheil von mir fernzuhalten. Vorsichtig lösten wir uns voneinander und seine Hände legten sich sanft an meine Wangen. Seine Finger streichelten zärtlich die letzten Tränen weg. Unsicher sah ich ihn an. Das eisblau seiner Augen war so intensiv. Noch immer schaffte er es durch seine Berührung, dass ich Gänsehaut bekam. Meine Wangen wurden leicht rot. "Sagst du mir irgendwann, wer dir das angetan hat?", fragte er hoffnungsvoll und ich nickte, denn innerlich wusste ich, dass ich es irgendwann sagen könnte. Es war nur eine Frage der Zeit und der Umstände. Auf seinen Lippen bildete sich sein wunderschönes Lächeln und seine Augen leuchteten mich an. Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln und er löste seine Hände von meinen Wangen. Sofort fühlten sich die Stellen, an denen er mich berührt hatte, kalt an. "Soll ich dir die restlichen Skizzen zeigen?", fragte er neugierig. Schnell nickte ich glücklich darüber, dass er das Thema wechselte. Er setzte sich und öffnete seine Mappe. Dann schob er mir die Skizzen zu. Die restliche Stunde redeten wir über die Skizzen und arbeiteten uns in das Computerprogramm ein. Ich war erstaunt, wie nett und liebevoll er mit mir umging. Er wirkte nicht einmal genervt oder wütend. Meine Ideen griff er auf und notierte sich diese sogar. Zur nächsten Stunde möchte er die Bilder fertig haben, damit wir sie einscannen und mit dem Text verknüpfen können. Zwischendurch erwischte ich mich mir zu wünschen, dass die Zeit stehen blieb, denn es war wirklich schön mit ihm. So oft wie heute hatte er mir noch nie sein echtes Lächeln gezeigt. Als wir am Computer saßen berührten sich immer wieder kurz unsere Hände oder Arme und sofort kribbelten die Stellen, an die er mich berührt hatte. Was macht er nur mit mir? Als ich meine Sachen zusammenpackte, spürte ich plötzlich seinen Blick auf mir. Nervös und unsicher schaute ich zu ihm auf. "Warte nach dem Klingeln zehn Minuten und komm dann zu meinem Auto.", forderte er mich lächelnd auf und stand auf. "A-aber ich, ich m-muss d-doch zu m-meiner Mom.", sagte ich verwirrt. Er begann zu schmunzeln. "Ja, ich fahr dich, Trottel." Damit war er verschwunden. Verdutzt schaute ich noch immer auf die Stelle, wo er gerade gestanden hatte. Es klingelte und ich lief leise zu meinem Spind. Mein Blick wanderte immer wieder zur Uhr, während ich ganz langsam Bücher wechselte. Alle Schüler strömten an mir vorbei, erleichtert endlich das Schulgebäude verlassen zu können. Um Punkt zehn nach lief ich förmlich auf Zehenspitzen zum Ausgang. Immer wieder sah ich mich entgeistert um. Es war niemand mehr hier und doch kam ich mir vor wie ein Spion auf geheimer Mission. Niemand sollte sehen, dass ich in sein Auto stieg. Draußen schaute ich mich ebenfalls mehrfach prüfend um, bevor ich zu Jonathans Auto rannte und in Windeseile einstieg. Jonathan sah mich geschockt an. "Was ist denn in dich gefahren?", fragte er nun amüsiert, sah aber auch ein wenig besorgt aus. "Niemand sollte mich sehen.", stotterte ich unsicher. Er begann zu lachen. Dabei warf er leicht seinen Kopf in den Nacken und kniff seine Augen leicht zu. Er sah verboten gut aus. Ich hatte ihn noch nie so herzhaft und echt lachen gehört wie jetzt und ich konnte es nicht verhindern, dass ich ihn bewundernd musterte. Außerdem schlich sich ebenfalls ein Lächeln auf meine Lippen, wenn ich rückblickend meinen Spurt zu seinem Auto betrachtete. "Du bist verrückt.", sagte er lächelnd, aber es war nicht seine übliche arrogante Stimme von oben herab. Nein, die Aussage war überhaupt nicht böse gemeint. Verwirrt sah ich ihn an. Wer ist der Junge, der da neben mir am Steuer saß?

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