Kapitel 66

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Nun saß ich hier neben meiner Mom nach einem bisher ziemlich entspannten Tag und war jetzt alles andere als ruhig und ausgeglichen. Mir schwirrte der Kopf und mein Magen grummelte vor Angst. Sollte ich nun mit Jonathan reden oder nicht? War es der richtige Zeitpunkt oder nicht? Gibt es überhaupt einen richtigen Zeitpunkt? Ich hatte bereits vor zwanzig Minuten mit Jonathan gerechnet, da Schulschluss zu diesem Zeitpunkt schon eine Viertelstunde zurück lag, doch er war noch immer nicht da. Auch wusste ich nicht, wie sein Tag gestern mit Matthew verlief, was sie getan haben und ob es Streit gab. Es machte mich verrückt nichts zu wissen und obendrein machte ich mir langsam Sorgen um Jonathan. Was wäre, wenn ihm etwas passiert ist? Schließlich ist Auto fahren alles andere als ungefährlich, was mir schmerzlich durch meine Eltern vorgeführt wurde. Gerade deshalb machte ich mir wahrscheinlich Sorgen. Ich seufzte, denn ich wusste nicht mal, was ich Mom erzählen sollte. Gestern hatte ich mir bereits merkwürdige Hirngespenster und Fantasien erdacht, nur um ihr nicht zu erzählen, dass ich bei Jonathan war, weil mich erst ihr Bruder und dann sein Sohn verprügelt und ziemlich verletzt hatten. Das Einzige, was ich ihr bisher erzählt habe, war, dass ich in der Schule gewesen sei. Hierbei handelte es sich jedoch auch nur um eine ziemlich erbärmliche Lüge. Dies wiederum ließ mein schlechtes Gewissen gegenüber Mom unendlich groß werden. Schließlich hatte sie es nicht verdient belogen zu werden und doch tat ich dies nun schon sehr lange. Mittlerweile erzähle ich so viele Lügen, dass ich nicht mal mehr weiß, wann ich die Wahrheit gesagt habe und was Inhalt der ersten Lügen war. Vielleicht hatte Mom mich ja schon längst ertappt und schüttelte enttäuscht mit dem Kopf von da, wo sie auch immer ist. Die Minuten vergingen, meine Gedanken wurden immer lauter und ließen mich nicht in Ruhe. Jonathan war noch immer nicht da. Schlussendlich endete die Besucherzeit. Also nahm ich meine Taschen und machte mich auf den Weg zum Hauptausgang in der Hoffnung zumindest dort noch auf Jonathan zu treffen. Plötzlich sah ich ihn um die Ecke rennen. Er sah mehr als gehetzt aus. Kurz bevor er mich umrennen konnte, sah er mich und stoppte abrupt. "Tut mir so leid, Abby. Ich verspreche, ich mache es wieder gut. Ich wurde aufgehalten.", sagte er vollkommen außer Atem. Ich nickte unsicher, denn einerseits fand ich es süß, dass er sich noch so beeilt hatte, nun hier war und sich entschuldigt hatte. Andererseits war ich enttäuscht aufgrund der Zeit, die uns wieder miteinander genommen wurde. "Komm ich fahr dich, damit du nicht zu spät kommst.", meinte er noch immer gestresst und ergriff meine Hand. Schnurstracks zog er mich so schnell es ging durch die verwinkelten Gänge des Krankenhauses bis nach draußen auf den kalten Parkplatz zu seinem Auto. Es war stürmisch, so dass mir meine Haare ins Gesicht wehten und mir so kurz die Sicht verdeckten. Schnell strich ich sie aus meinem Gesicht und stieg ein, denn Jonathan hielt mir bereits die Tür auf. Ich schnallte mich an, während Jonathan einstieg und bereits den Schlüssel in die Zündung steckte. Keine zehn Sekunden später fuhren wir vom Parkplatz herunter. "Es tut mir wirklich leid, Abby, auch wegen gestern. Ich hatte geplant eher zurück zu sein, aber Matthew ist total außer sich gewesen. So habe ich ihn noch nie gesehen. Er meinte, dass er etwas Schreckliches getan hat und ein Monster sei wie sein Vater. Ich weiß, ich habe Matthew versprochen nicht darüber zu reden, aber ich muss es los werden und deine Meinung wissen. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Er wollte mir einfach nicht sagen, was er Schreckliches gemacht hat. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er fähig ist etwas wirklich Schlimmes zu tun. Die ganze Zeit habe ich versucht ihn zu beruhigen, aber es war zwecklos. Deswegen war ich so lange bei ihm. Du musst mir glauben Abby, ich wäre liebend gerne bei dir gewesen. Wir hätten noch einen Film gucken können oder Musik hören oder einfach reden, keine Ahnung, aber Matthew brauchte mich und da kann ich ihn nicht abweisen. Wir sind, schon seit ich denken kann, befreundet, verstehst du? Deshalb war es auch so schrecklich mit anzusehen, wie er gestern und heute gelitten hat. Ist es in Ordnung, wenn wir das nachholen? Ich kann mir etwas ausdenken oder du kommst mit zu mir? Ich drehe auf der Stelle um, wenn du das möchtest. Ich will dich sowieso nicht dort absetzen. Der Bastard wird dich hundertprozentig wieder verletzen und das kann ich nicht zulassen. Ich kann einfach nicht zulassen, dass er dich mit seinen dreckigen scheiß Händen nur berührt. Allein wenn ich daran denke, könnte ich den Hurensohn umbringen." Schnell legte ich meine Hand auf Jonathans Bein, denn es war unwiderruflich klar, dass er sich gerade in seine Wut hinein steigerte. Er atmete hörbar gereizt aus und umklammerte noch immer das Lenkrad stark, sodass seine Knöchel an den Fingern weiß hervortraten. "Wir holen das nach. Ich muss mindestens noch einmal zurück, bitte verstehe mich. Es wird schon alles gut gehen.", versuchte ich ihn verzweifelt zu beruhigen. "Du sagst immer, dass alles gut gehen wird und dann bist du am Ende verletzt im Krankenhaus." Ich seufzte leise. Was sollte ich dagegen einwerfen? Ich wusste, dass er recht hatte. Auch konnte ich noch nicht registrieren, was Jonathan mir gerade offenbart hatte. Matthew hatte also qualvolle Schuldgefühle. Ich wusste nicht, wie ich darüber denken sollte. Er hatte Jahre lang unter der Folter seines Vaters gelitten. Das ist kein Grund selbst gewalttätig zu werden, aber die Angst ein Monster zu werden, konnte ich irgendwie nachvollziehen. Jonathan wurde zu meinem Unmut langsamer. Wir waren schon da. Langsam kam das Auto zum Stehen. Ich sah Jonathan verzweifelt an. "Geh nicht!", forderte er mich auf. "Glaub mir, ich will bei dir bleiben." "Dann tue es doch einfach!", sagte er voller Unverständnis. "Ich muss noch einmal zurück. In meinem Zimmer ist eine Kiste versteckt mit all meinen Erinnerungen. Ich muss sie holen.", versuchte ich mich zu erklären. "Also kommst du morgen zu mir mit deinen Sachen und der Kiste?" Es sollte wohl ursprünglich eine Frage sein, aber seine Stimmlage war deutlich, dass es kein Nein auf diese Frage meinerseits geben sollte. Also nickte ich. Im nächsten Moment zog er mich zu sich und drückte seine Lippen leidenschaftlich auf die meinen. Ich war so überrumpelt, dass ein, zwei Sekunden vergingen bis ich den Kuss erwiderte. Mein Herz pochte stark gegen meine Brust. Ich ertappte mich, mir zu wünschen, dass der Moment nicht endet, doch schlussendlich löste Jonathan sich von mir. Total vernebelt von dem Kuss, schnappte ich mir meine Tasche, verabschiedete mich und stieg aus. Wenige Sekunden später verschwand Jonathans Auto im Dunkel der Nacht. Also musste ich nun wohl oder übel das Gespräch auf morgen verschieben. Ich seufzte frustriert. Aber Jonathan brauchte mich in dem Moment. Es hätte nicht gepasst, es ihm zu sagen. Ich machte mich schnell auf den Weg nach Hause. Als ich an der morschen Tür ankam, lauschte ich einen Moment, aber es war kein Laut drinnen zu vernehmen. Also ging ich hinein und zog meine Schuhe und Jacke aus. Auf leisen Sohlen schlich ich in den Flur und schaute mich um. Es war niemand da. Also machte ich mich etwas lauter auf den Weg in die Küche und begann zu kochen. Nach circa fünf Minuten begann mein Handy plötzlich wie wild zu vibrieren. Verwirrt nahm ich es aus meiner Tasche und schaute auf den Bildschirm. "Jonathan.", flüsterte ich irritiert in die Stille. Schnell hob ich ab. "H-hey.", meldete ich mich unsicher. "Hey Abby, du hast eine deiner Taschen in meinem Auto vergessen. Ich bin gerade umgedreht und auf den Weg zu dir." Geschockt schaute ich zu meiner Tasche. Tatsächlich hatte ich die Tasche mit meiner Kleidung bei ihm im Auto gelassen. Ich bin so ein Idiot! Der Kuss hatte mich voll aus der Bahn geworfen. "Also wunder dich nicht, wenn es gleich klingelt." Jonathan will hier klingeln? Nein! Warte, nein, er würde am falschen Haus klingeln. Nein, nein, nein! "Jonathan warte, ich komme heraus, bleib im Auto.", forderte ich ihn verzweifelt auf und rannte in den Flur zu meinen Schuhen. So schnell es ging, zog ich sie mir über und rannte hinaus. "Wieso? Ich bin doch schon hier." Seine Stimme klang schon die ganze Zeit über merkwürdig, aber ich konnte nicht zu ordnen, ob er wütend, enttäuscht oder traurig klang. Ich rannte die Auffahrt herunter und sah Jonathan an seinem Handy mitten auf dem Bürgersteig circa zwanzig Meter entfernt von mir mit meiner Tasche stehen. Nein! Er hatte mich gesehen und lief nun auf mich zu. Was sollte ich jetzt tun? Was sollte ich sagen? Umso näher er kam, desto deutlicher wurde, dass er immens wütend auf mich hinab schaute. Als wäre das Schicksal der Teufel, konnte ich hinter Jonathan in der Ferne eine joggende Person ausmachen und leider war mir nur ein Mensch bekannt, der immer vor dem Abendessen joggte. "Abby, warum zur Hölle kommst du aus dem Haus von Matthew und ich klingel wie ein Idiot bei der Nummer eins, nur damit mir eine Frau sagt, dass du dort nicht wohnst?", seine Stimme klang wutentbrannt und seine Augen brannten sich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Wut in meine Gedanken. "Jonathan, was machst du hier?", rief Matthew erst fröhlich von weiter weg und wurde dann aber immer leiser, als er mich neben Jonathan erkannte. Jetzt war alles verloren.

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