Kapitel 18

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Nachdenklich lief ich in den Französischunterricht und setzte mich auf meinen Platz in der ersten Reihe. Das aufgefangene Gespräch geisterte noch immer durch meine Gedanken. Wie lange wusste Jonathan schon davon? Wie lange besorgt er Matthew schon die Schmerzmittel? Wenn Matthew Jonathan so sehr vertraut, warum durfte Jonathan nicht wissen, dass ich seine Cousine bin? Oder weiß er es? Vertieft in meinen Gedanken hatte ich gar nicht bemerkt, dass der Unterricht begonnen hatte und mich der besagte Jonathan lange und irritiert musterte. Nervös zog ich meinen Schal höher und richtete meine Haare. Hoffentlich kann er von der Seite nichts von den Malen sehen. Erschrocken zuckte ich zusammen, als mich eine Papierkugel am Kopf traf und die Jungen hinter mir sowie Jonathan in schallendes Gelächter ausbrachen. Ich seufzte leise genervt und schaute nach vorne, wo Mademoiselle Faloire irgendeine französische Grammatik an die Tafel schrieb. Also begann ich abzuschreiben und ignorierte die Papierkugeln, die mich trafen bis eine neben meiner Hand liegen blieb, die eindeutig nicht von hinten kam. Jonathan schaute zur Tafel. Verwirrt ergriff ich die Kugel und öffnete sie. "Siehst gut aus, Freak.", las ich in Gedanken. Meine Wangen wurden automatisch rot und ich griff in mein Haar, um die Röte meiner Wangen mit ihnen für Jonathans Sicht zu verdecken. Er begann nur amüsiert zu lachen. "Abby, Jonathan, mon dieu! Attention!", rief Mademoiselle Faloire aufgebracht und machte dann weiter mit ihrem Unterricht. Was um alles in der Welt will er mit dieser Nachricht bezwecken? Will er sich über mich lustig machen? Ich hatte die geöffnete Papierkugel noch immer in der Hand und stopfte sie nun sauer in meine Federmappe. Egal, welches Spielchen er hier spielt, ich spiele nicht mit. Soll er jemand anderen zum Narren halten. Erschrocken piepste ich auf, als mich eine Kugel an der Wange traf und auf meinen Schoß plumpste. "Jonathan, tu m'énerve!", seufzte Mademoiselle Faloire außer sich. "Ja, sie mich auch.", sagte Jonathan genervt. "Nachsitzen und raus aus meiner Klasse!", schrie sie nun aufgebracht und ihre Wangen wurden rot vor Wut. Jonathan verdrehte die Augen und verließ cool unter Jubel der anderen den Klassenraum. "Abby, alles in Ordnung?", fragte nun Mademoiselle Faloire besorgt. Ich nickte schnell, damit sie mich in Ruhe ließ. Ich konnte die zuvor geschehenen Ereignisse noch gar nicht realisieren, als meine Hand schon die Kugel von meinem Schoß ergriff und öffnete. "Du bist süß, wenn du rot wirst, Freak." Was? Was ist in ihn gefahren? Zwei Komplimente an einem Tag waren auf jeden Fall mehr als merkwürdig. Meine Wangen wurden wieder rot und ich ärgerte mich innerlich darüber. Was macht dieser Junge nur mit mir? Erst bringt er mich zur Weißglut und im nächsten Moment ist er nett und umgänglich. Und nun machte er mir sogar Komplimente. Irgendetwas stimmte hier gewaltig nicht oder er hat wirklich schlimmere Stimmungschwankungen als eine hochschwangere Frau. Er konnte das einfach nicht ernst meinen. Es klingelte, weshalb ich erneut aus meinem Gedankenhurricane schreckte. Schnell packte ich meine Sachen und machte mich auf den Weg zu Englisch. Im Flur starrten mich erneut alle an. Ich schaute herunter und versuchte alles zu ignorieren. Das war jedoch eine schlechte Idee, denn ich wurde geschubst und fiel gegen Mr. Prayer. Der geriet ins Wanken und schüttete sein Getränk über seinen Pullunder. Nein! Wütend drehte er sich um. "Abby! Nachsitzen!", brüllte er wütend. "Und wischen sie das auf.", damit verschwand er wütend fluchend Richtung Lehrerzimmer und um mich herum begannen alle zu lachen. Mein Blick traf auf das triumphierende Gesicht von Melania. Sie beugte sich über mich, da ich noch immer auf dem Boden hockte. "Denkst du mit offenen Haaren und etwas anderer Kleidung würden dich alle mögen? Du bleibst ein hässlicher kleiner Streber." Damit schubste sie mich erneut, sodass ich fast in das verschüttete Getränk von Mr. Prayer fiel. Alle lachten nur noch lauter, weshalb ich schnell aufstand und in die Mädchentoillette lief. Tränen sammelten sich in meinen Augen, aber ich blinzelte sie weg. Meine Beine schmerzten und ich wollte einfach nur noch zu Mom. Aber nein, dank Melania wird mir wieder eine kostbare Stunde mit meiner Mom genommen. Nun konnte ich es nicht mehr verhindern, dass die ersten Tränen meine Wangen hinunter liefen. "Scheiße!", flüsterte ich und wischte mir über die Wangen. Ich rollte etwas Toilettenpapier ab und wischte das Getränk auf. Dann kam ich auch noch fünf Minuten zu spät zu Geschichte, aber Mr. Kellington sagte nichts, als er meine noch tränengefüllten Augen sah. Schnell lief ich auf meinen Platz, dabei kreuzten sich kurz Jonathans und mein Blick. Irritiert und mit einen Hauch von Besorgnis, den ich mir vielleicht nur eingebildet hatte, sah er mich an. Doch ich wich seinem Blick und traf ebenfalls auf besorgte Augen von Matthew. Schnell setzte ich mich und konzentrierte mich auf den Unterricht, dass mir in Geschichte glücklicherweise sehr leicht fiel. Nach dem Unterricht hielt mich Mr. Kellington auf. "Ist alles in Ordnung, Abby?", fragte er mich besorgt. Ich nickte ihm zu. "Wieso warst du zu spät?", fragte er vorsichtig. Wie sollte ich das meinem Lehrer erklären ohne als kleines Opfer darzustehen und damit eine riesige Welle auszulösen, die am Ende nichts daran ändern würde, dass mich alle hassen. Es würde das sogar nur verschlimmern. "Ich habe einen Anruf bekommen. Meine Oma musste ins Krankenhaus.", stotterte ich die Lüge hervor. Mitfühlend sah er mich an. "Danke, dass du es mir gesagt hast, Abby. Ich hoffe deiner Oma geht es bald besser." Ich nickte ihm dankend zu und damit ließ er mich gehen. Zum Glück wusste er nicht, dass Moms Eltern bereits tot waren und Dads Eltern in Kanada wohnen und seit Jahren keinen Kontakt mehr zu uns haben. Soweit ich es mitbekommen habe, hatten sie es stets kritisch und harsch verurteilt, dass Dad Mom geheiratet hat. Einmal klang es sogar heraus, dass sie Dad mit einer anderen Frau verheiraten wollten. Ich habe sie nicht oft gesehen. Eigentlich wusste ich nichts von ihnen. Nach dem Tod von Dad hatten sie sich nicht gemeldet. Moms Eltern habe ich geliebt, jedes Wochenende sind Mom und ich zu ihnen gefahren und haben sie sonntags besucht. Doch als ich sieben war, ist erst Moms Mutter verstorben und ein Jahr später ihr Vater. In meiner Ecke in der Bibliothek angekommen, seufzte ich und nahm mein Buch. Was für ein doofer Tag, dachte ich noch, bevor ich in die Welt des Buches abtauchte. Als ich den Raum zum Nachsitzen betrat, war er glücklicherweise noch leer. Ich suchte mir weiter hinten einen Platz aus und wartete auf den Lehrer, der die Aufsicht führen würde. Ich kannte ihn nicht, vom Namen her müsste es der Stellvertreter des Schuldirektors sein. Er war in einen Anzug gekleidet und gab mir die Aufgabe die Schulordnung abzuschreiben. Seufzend begann ich Zeile für Zeile abzuschreiben bis die Tür aufkrachte und Jonathan herein platzte. "Ah Jonathan, schön, dass sie uns auch noch beehren. Sie dürfen sich setzen und die bekannte Schulordnung abschreiben. Müssten sie sie nicht schon auswendig können?", fragte der Lehrer, der Jonathan scheinbar gut kannte. Jonathan verdrehte die Augen, nahm die Schulordnung und lief nach hinten. Unsere Blicke trafen sich und verwirrt musterte er mich. "Freak, was machst du hier?", fragte er neugierig so leise, dass es der Lehrer nicht hören konnte. "Glaub mir, ich wäre gern woanders.", stotterte ich genervt und schrieb weiter ab. Jedoch konnte ich es nicht verhindern, dass ich immer wieder zu ihm herüber sah. Seine Haare waren etwas verwuschelt und der schwarze Markenpullover stand ihm mal wieder unheimlich gut. Wie kann ein Mensch nur so gut aussehen? Er saß genervt auf dem Stuhl und hatte sich Kopfhörer in die Ohren gemacht. Ich konnte die Musik leise hören, aber ich konnte sie keinem Lied zuordnen, dass ich kannte. Er schrieb tatsächlich zu meinem Verblüffen die Schulordnung ab. Plötzlich klingelte das Handy des Lehrers und er ging sofort heran. "Ja? Jetzt? Ja, ich komme sofort!", rief er aufgeregt ins Telefon. Er wurde bleich und stand sofort auf. "Meine Frau bekommt unser Kind. Ich muss los. Ich werde sofort jemanden Bescheid geben, der mich ablöst.", sprach er so schnell, dass man ihm kaum folgen konnte. Damit rannte er aus dem Klassenraum und knallte die Tür zu. Jonathan und ich sahen uns erschrocken an. Das kam plötzlich.

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