Kapitel 33

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Im nächsten Moment kam er heraus mit Kleidung in seiner Hand. "Hier das kannst du anziehen zum Schlafen." Jonathan lief auf mich zu und reichte mir ein großes Tshirt, eine Boxershorts und eine Jogginghose. "D-danke." Ich lächelte ihn glücklich an. "Hier ist das Bad.", sagte er, während er auf die zweite Tür zeigte und diese sogleich öffnete. Dahinter verbarg sich ein kleiner Raum mit einem Waschbecken, einer Toilette und einer Dusche. Unsicher lief ich ins Bad und sah mich um. Die Wände waren dunkelblau und weiß gefliest. "Ich hole dir noch frische Handtücher." Damit verschwand Jonathan zurück in seinem Zimmer und ich legte vorsichtig seine Kleidung auf eine braune Kommode. Während ich auf Jonathan wartete, fiel mein Blick auf den großen Spiegel über dem Waschbecken. Mein Anblick schockierte mich. Meine Wangen sahen eingefallen aus, meinem Gesicht fehlte jegliche Farbe und meine Augen waren leer. Es war als wäre nur mein Körper da, der nicht mehr war, als eine leere Hülle, die vergeblich versuchte standhaft zu bleiben. Meine braunen Haare hingen leblos herab und klebten teils ekelig in meinem Gesicht oder zusammen durch das Blut. Meine Schultern hingen traurig herunter. In dem grellen weißen Licht des Bads konnte man deutlich die Überreste der blauen Flecken an meinem Hals sehen und ich wollte gar nicht wissen, wie mein Schulterblatt nachdem Vorfall gestern aussieht. Vorsichtig schob ich das Top und den Cardigan zu Seite und betrachtete erst meine lilane Schulter. Dann drehte ich mich leicht und versuchte mein Schulterblatt zu begutachten. "Was ist das?" Sofort schreckte ich zurück und riss meinen Cardigan wieder über meine Schulter. Jonathan sah mich voller Schmerz an. Seine Augen waren aufgerissen und er fixierte noch immer meine Schulter, die nun schützend bedeckt war. "Kommt das auch von heute?" Er lief auf mich zu und ohne zu fragen, zog er den Cardigan aus meinen zitternden Händen und machte meine Schulter wieder für ihn sichtbar. Ich nickte einfach in der Hoffnung, dass er mir glauben würde. "Abby, wer war das? Die Flecken sehen älter aus." Wieder klang er wutentbrannt und ernst. Tränen sammelten sich wieder in meinen Augen. Ich würde es ihm so gerne sagen, aber ich kann es einfach nicht. Jonathan würde durch mich in Gefahr geraten, geschweige denn in welche Schwierigkeiten ich mich begeben würde, wenn ich nur ein Wort über die Person verlieren würde. Meine Hände zitterten schlimmer. "Ich, ich k-kann n-nicht." Es war mehr ein Schluchzen, aber er hat mich gehört, denn er schloss wütend seine Augen. Sein Kiefer war noch immer angespannt. Er atmete tief ein und aus bis er seine Augen wieder öffnete und mitfühlend in die meinen sah. "Niemand hat das Recht dir weh zu tun.", sagte er ernst. Versteinert durch seinen ernsten Blick, schaffte ich es nur leicht zu nicken. "Komm her.", flüsterte er und zog mich sanft an seine starke Brust. Seine Arme schlossen sich um mich und sofort durchströmte mich seine Wärme. Es war einfach unglaublich, welche Wirkung dieser Mensch auf mich hatte. Eine Berührung und mein Herz rast, eine Umarmung und ich fühle mich beschützt und geborgen, ein Blickkontakt und ich bin aufgeregt, nervös und unsicher. Wie kann eine Person einen so unsicher und zugleich so stark machen? Sein Kopf lehnte vorsichtig an meinem und seine Hand strich immer wieder beruhigend durch mein Haar. "Ich werde dafür sorgen, dass zumindest in der Schule dir nie wieder jemand nur ein Haar krümmt. Ich lasse nicht zu, dass sie dir weiter weh tun. Gott Abby, du hast diesen ganzen Schmerz nicht verdient." "D-doch." Sofort versteifte er sich und zog mich sanft zurück, um mich anzusehen. "Sag so etwas nicht. Niemand verdient so etwas!", sagte er ernst. Doch ich schüttelte vehement meinen Kopf und immer mehr Tränen liefen meine Wangen hinunter. Denn das, was ich all die Monate verdrängt hatte, brach wieder auf mich ein. "Doch, das ist alles meine Schuld. Meine Eltern hatten wegen mir den Unfall, wegen meiner verdammten Tanzaufführung.", stotterte ich schluchzend. Mein ganzer Körper bebte förmlich, weil ich so heftig weinte. Mein Herz zog sich zusammen und ich bekam kaum Luft. Ohne etwas dagegen zu halten, zog Jonathan mich zurück in seine Arme. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Meine Tränen schienen nicht zu enden, doch er hielt mich wie ein Felsen in der Brandung. Er ließ nicht locker, sagte nichts, er hielt mich einfach nur fest bis mein Schluchzen verstummte und meine Tränen versiegten. Erst als ich mich beruhigt hatte, löste er sich etwas von mir. Sein ganzes Shirt war nass von meinen Tränen, aber das schien ihm total egal zu sein. Wir standen uns noch immer sehr nah gegenüber. Sanft legte sich seine rechte Hand an meine Wange und streichelte über sie. Jonathan sah mir tief in die Augen. "Du bist nicht Schuld, Abby. Du kannst nichts dafür. Schlimme Dinge passieren leider, ohne dass man etwas dagegen machen kann. Man fühlt sich wehrlos, aber Abby, du musst dir immer sagen, dass du nicht Schuld bist. Alles andere macht dich seelisch kaputt." Seine Stimme war leise und doch hörte ich jedes Wort. Ich nickte ohne nachzudenken, denn zu meinem großen Erstaunen konnte ich seinen Worten glauben. Er ist die erste Person, der ich es glauben kann nachdem Unfall. Alle haben mir das gesagt und doch war ich stets vom Gegenteil überzeugt. Auf seinen Lippen hatte sich ein Lächeln gebildet und plötzlich beugte er sich zu mir vor. Unsicher sah ich zu ihm hoch. Was hat er nur vor? Er wird doch nicht, oder? Seine Lippen berührten zart meine Stirn. Ich schloss meine Augen und genoss seine Wärme für einen letzten Augenblick, denn im nächsten Moment hatte er sich umgedreht und die Handtücher, die er zuvor fallen gelassen hatte, aufgehoben. Ebenfalls dabei war eine eingepackte Zahnbürste. Dankend lächelte ich ihn an und nahm ihm die Sachen ab. "Ich werde in meinem Zimmer warten.", ließ er mich wissen, bevor er sich umdrehte und die Tür hinter sich schloss. Tief atmete ich aus und konnte es noch immer nicht fassen, dass er mir einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte. Ich war noch nie einem Jungen so nah. Jedes Mädchen in meinem Alter würde mich auslachen und sagen, dass es nichts war, denn es war ja kein echter Kuss auf die Lippen, aber mein Herz schlug mir trotzdem bis zum Hals. Mit wackeligen Knien machte ich mich für die Dusche fertig und war erstaunt, wie gut sich warmes Wasser nach diesem langen Tag anfühlte. Jonathan war viel zu gut zu mir. Niemand kümmerte sich so um mich und machte sich so viele Sorgen. Noch vor zwei Wochen hätte ich dies nie für möglich gehalten. So kann der erste Eindruck von einem Menschen täuschen. Hinter seiner Fassade verbirgt sich ein ganz anderer Mensch. Nach der Dusche fühlte ich mich frisch und vor allem wieder sauber. Ich föhnte meine Haare und putzte mir die Zähne. Seine Sachen waren mir viel zu groß, also stopfte ich das Tshirt in die Jogginghose und krempelte die Hose an beiden Beinen mehrfach um, damit ich nicht über die Hosenenden stolpern würde. Als ich mich im Spiegel betrachtete, sah ich schon viel besser aus. Zwar war ich noch immer sehr blass und meine Wangen eingefallen, aber ich lächelte und alles sah wieder gepflegt aus. Ich ließ meine Haare offen und zögerte kurz, bevor ich die Tür öffnete. Hinter der Tür saß Jonathan scheinbar ebenfalls lässig gekleidet und frisch geduscht mit seinem Handy auf dem Bett. Als er die Tür hörte, drehte er sich sofort lächelnd zu mir und warf sein Handy auf das Bett. Auf dem Tisch daneben stand ein kleines Tablett mit Sandwiches und Getränken. "Komm her.", forderte er mich lachend auf, als er bemerkte, dass ich wie angewurzelt im Türrahmen verweilte. Unsicher schloss ich also die Tür und lief zu ihm. "Meine Sachen stehen dir." Auf seinen Lippen lag sein schiefes Grinsen und meine Wangen färbten sich sofort rosarot. Ich setzte mich etwas gegenüber von ihm und schaute nervös auf meine Hände. "Danke für alles, Jonathan.", stotterte ich. Ich hörte ihn leise schmunzeln und plötzlich hatte er das Tablett zwischen uns gestellt. "Du musst dich nicht für alles bedanken, Abby." Doch, weil mich niemand so wertvoll behandelt, wie du es tust, Jonathan...

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