Kapitel 16

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Das Nachsitzen verbrachte ich damit die Hausaufgabe in Religion erneut zu schreiben und darauf zu achten nicht genau dasselbe zu schreiben. Ich hatte Glück, dass niemand mit mir zusammen nachsitzen musste. So konnte ich in Ruhe unter den wachsamen Augen von Mr. Prayer die Schulordnung abschreiben und die Hausaufgabe erledigen. Am Ende gab ich sie direkt bei ihm ab, um mir den Weg zu seinem Fach zu ersparen. Er schaute mich etwas verblüfft an und ließ mich gehen. Nun joggte beziehungsweise ich versuchte es zumindest im Regen zum Krankenhaus. Der Regen hatte zu meinem Vorteil etwas nach gelassen. Es schüttete nicht mehr wie aus Gießkannen, sondern glich nun eher dem Wasserstrahl aus einem Duschkopf, wenn man die Wasserleitung nur leicht aufgedreht hatte. Nichts desto trotz ich war nass und komplett aus der Puste, als ich das Krankenhaus erreichte. Meine Kondition hatte ziemlich nachgelassen. Früher war ich jeden Tag joggen, um mich für das Tanzen fit zu halten. Ich hatte dreimal die Woche Training im Verein und an den anderen Tagen trainierte ich zu Hause. Dad hatte extra den Dachboden der Garage für mich in mein kleines Tanzstudio umgebaut. Es war meine kleine Welt und mein Traum war es auf die Tanzakademie für Modern Dance zu kommen, um später Tanz zu studieren, doch dieser Traum platzte wie meine ganze Welt. Das Kartenhäuschen fiel einfach zusammen und es ist nichts mehr, wie es einmal war. Das Tanzen machte mich glücklich, war mein Ventil und vor allem meine Seele. Wenn ich meine Ballettschuhe jetzt in der Hand hielt, fühlte ich mich jedesmal zurück versetzt an den Tag des schrecklichen Unfalls und ich konnte nicht anders, als jedes Mal Schuldgefühle zu bekämpfen. Sie waren auf dem Weg zu meiner Audition, zu meinem Vortanzen. Wären sie nicht wegen mir unterwegs gewesen, würde Dad noch leben und Mom wäre kerngesund. Als ich aus meiner Gedankenwelt auftauchte, fand ich mich in Moms Krankenzimmer wieder. Manchmal ist es gruselig, wie der Körper automatisch steuert, wenn die Seele doch ganz wo anders ist. Ich zog meine nasse Jacke aus und meine Schuhe. Dann legte ich mich zu Mom ins Bett, darauf bedacht keinen der tausend Schläuche zu berühren. Ich kuschelte mich vorsichtig an sie und genoss ihre Nähe. Dad und sie fehlten mir so sehr, ich kann den Schmerz nicht in Worte fassen. Leise weinte ich und wischte mir die Tränen weg, damit sie nicht auf Moms grüner Robe vom Krankenhaus fielen. Es ist so ernüchternd, dass sie sich nicht bewegt, dass sie die Umarmung nicht erwidert. Ich brauche sie und versuche meine Bedürfnisse irgendwie zu stillen, aber Mom kann mir diese Nähe wie früher nicht geben. Meine Augen waren so schwer. Ich war noch immer müde und durch die vielen Tränen wurde es nicht besser. Die Stunde verging leider wie im Flug und ich musste mich schweren Herzens verabschieden. Traurig und missmutig lief ich nach Hause. Der Regen prasselte auf mich herab. Ich wusste, ich hätte den Bus nehmen können, aber der Regen widerspiegelte mein Leben und meine momentane Gefühlswelt. Vollkommen durchnässt kam ich zu Hause an, kochte etwas schnelles, nahm mir einen kleinen Telller davon mit nach oben in mein Zimmer und machte lustlos meine Hausaufgaben. Mir fielen früh die Augen zu und mein Körper holte sich den Schlaf zurück, den er so dringend brauchte. Ich schreckte hoch, als es dreimal klopfte und stand schnell auf. Mir wurde kurz schwarz vor Augen, aber das legte sich zum Glück schnell. Also machte ich mich schnellen Schrittes auf den Weg ins Bad, um mich zu duschen. Schnell war ich fertig, machte meine übliche Frisur zum geflochtenen Zopf, trug einen rosanen, für meine momentanen Verhältnisse etwas engeren, Pullover und eine schwarze Jeans mit Löchern. Ich hatte sie damals ohne Löcher gekauft und hofte jetzt inständig, dass die Löcher als Modetrend durch gehen, denn ich besaß nicht viele Hosen und ich müsste dringend heute Abend die Wäsche machen. Leise schlich ich mich herunter, räumte den Dreck von gestern Abend weg, wusch das Geschirr ab, schnappte mir wie immer meinen Apfel und machte mich genervt auf den Weg zur Schule. Noch im ärmeren Teil der Stadt, als ich den Bürgersteig entlang lief, schreckte ich plötzlich hoch durch eine Hupe. Ich sah erschrocken auf und blickte in zwei eisblaue Augen. "Guten Morgen, Freak.", rief Jonathan aus seinem Audi und fuhr in Richtung meines zu Hauses. Wahrscheinlich würde er Matthew abholen. Was um alles in der Welt sollte das? Die Menschen um mich herum beäugten mich als wäre ich ein Alien, aber warum sollte ich es ihnen verübeln. Wenn hier ein Mädchen von einem Mann in einem dicken Auto angehupt wird, handelt es sich meistens um ihren reichen Zuhälter, der sie maßlos ausbeutete. Ich hoffte jedoch inständig, dass sie mich nicht für eine Prostituierte hielten. Meine Schritte wurden schneller. Ich wollte vor den beiden in der Schule ankommen, um seelenruhig zum Klassenraum zu kommen. Andererseits hatte Jonathan versprochen, die Jungen davon abzuhalten mich zu ärgern. Da stellt sich jedoch die Frage, ob ich ihm vertrauen kann. Vorsicht ist schließlich besser als Nachsicht. Auf dem Weg zum Raum hatte Melania mir ein Bein gestellt und mich als prüde Streberin bezeichnet, aber ich konnte mich auffangen und ignorierte ihre Beleidigung so gut es ging. Die ersten Stunden zogen so an mir vorbei. Ich versuchte aufzupassen, alles mitzuschreiben und einigermaßen gut im Biologieüberraschungstest abzuschneiden. Die Pause hatte ich ruhig mit Lesen verbracht und ich war erleichtert, dass der Tag bisher so gut verlief, aber vielleicht hatte ich mich darüber zu früh gefreut. Es folgte Chemie. Ich setzte mich an meinen Platz und kurz darauf folgte Jonathan, der heute ausnahmsweise mal pünktlich war. Er roch streng nach Zigarettenrauch und seine Haare hatte er heute mit Gel gestylt. Er trug ein weißes Tshirt und darüber ein schwarzes Hemd, dass er offen trug. Die schwarze Jeans umspielte seine muskulösen Beine und seine Augen glänzten in dem leicht nebligen Licht des Chemieraums. Ich vermutete, dass Ms. Fax in der Stunde zuvor mal wieder etwas in die Luft gejagt hatte, denn der leichte Nebel im Raum kam nicht von ungefähr. Außerdem standen alle Fenster weit auf und ein leicht penetranter Geruch nach verbranntem Plastik lag noch in der Luft. Alles im allem sah Jonathan mal wieder unverschämt gut aus. Er ignorierte mich mal wieder gekonnt, aber das war egal, denn ich schrieb fleißig von der Tafel ab. Eine Strähne hatte sich aus meinem Zopf gelöst und sie fiel mir unglücklicherweise die ganze Zeit ins Gesicht. Genervt steckte ich sie alle zwei Minuten zurück hinter mein Ohr. "Ey Streber, kannst du mal aufhören die Luft zu verpesten. Du stinkst.", kicherte Angelika und gab einem Mädchen, dessen Namen ich nicht kannte, einen Handschlag. "Der arme Jonathan muss auch noch neben der sitzen.", flüsterte die Sitznachbarin zurück. "Der Geruch ist noch nicht mal das Schlimmste. Bei ihrem Anblick bekommt man Augenkrebs und sie ist so fett, sie nimmt den ganzen Tisch ein.", sagte Jonathan angewidert. Ein Stich ausgehend von meinem Herzen fuhr durch meinen Körper. Was habe ich ihnen je getan? Ich wusste, dass ich hässlich bin, aber müssen sie das stets so betonen? Langsam aber sicher machte sich auch Wut in mir breit. Vertrauen? Jonathan kann mich mal. Er will die Jungen abhalten mir weh zu tun und mich bloßzustellen? Vielleicht sollte er erstmal bei sich selbst anfangen! Traurig und wütend zugleich schrieb ich weiter ab, bis gegen Ende der Stunde plötzlich ein zusammen geknülltes Papier zu mir herüber geschoben wurde. Ich nahm es und entfaltete es. "Ich habe nie gesagt, dass ich aufhören würde dich zu beleidigen. Der Deal steht noch immer.", las ich in meinen Gedanken. Ich erkannte die Schrift sofort. Also hatte Jonathan mir gestern in Französisch die Papierkugel mit der Nachricht zu geworfen. Aber dem Gedanken schenkte ich nur kurz Aufmerksamkeit, denn mich überrollte die pure Wut gegenüber Jonathan. Er war so ein Ekel, so ein arroganter Kotzbrocken, so ein fieser Mistkerl und ein Idiot. Ich zerriss wütend den Papierschnipsel und schmiss ihn in meine Federmappe. "Sachte kleiner Giftzwerg sonst spuckst du noch Feuer.", witzelte Jonathan arrogant und ich hätte ihm am liebsten dieses doofe Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. So kannte ich mich nicht, aber er konnte mich wirklich zur Weißglut bringen. Ich brauchte die restlichen Schulstunden, um mich zu beruhigen und lief nach Schulschluss schnurstracks Richtung Krankenhaus, doch ich hatte mich zu früh gefreut. Gerade als ich am Starbucks vorbei lief, bemerkte ich das Jonathan an der Mauer zum Geschäft mit einem Kaffeebecher lehnte. "Ey Freak, wohin des Weges?", fragte er amüsiert. "Geht dich nichts an.", stotterte ich und lief weiter. "Übrigens Freak.", begann er, stieß sich von der Wand ab und lief zu seinem Auto. "Du siehst gut aus in der Kleidung, solltest du öfter tragen. Dann siehst du nicht ganz so fett aus." Damit stieg er in sein Auto ein und ließ mich wutentbrannt und verwirrt zurück.

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