Kapitel 73

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Als ich missmutig nach Hause trottete, war mir elendig kalt. Ich fröstelte bereits den ganzen Weg über. Es war ziemlich abgekühlt und es wehte ein eisiger Wind, der in jede Ritze der Kleidung zog und einen erzittern ließ. Meine Kapuze hatte ich mir schützend tief in das Gesicht gezogen und meinen Schal hatte ich schon fast um mein halbes Gesicht gewickelt. Dr. Brenigan hatte während der gesamten Untersuchung nicht ein Wort über ihr Gespräch mit Jonathan fallen gelassen. Sie war nett und besorgt wie immer. Sie untersuchte mich genau. Ich fühlte mich unwohl, denn ich wusste nun mal von dem Gespräch und war noch immer verletzt von Jonathans Verhalten. Doch auch ich erwähnte mit keinem Wort, dass ich dem Gespräch heimlich gelauscht hatte und so ein geheimer Mithörer war. Dr. Brenigan kam zu dem Schluss, dass mir nichts fehlte. Ich war wohl einfach nur übermüdet und kraftlos, aber sie rügte mich regelmäßig sowie gut zu essen, um solche Ohnmachts- oder Schwindelattacken zu vermeiden. Zuhause angekommen, kochte ich eine Mahlzeit für meinen Onkel und machte mir selbst nur Milchreis. Ich stellte das Essen auf den Tisch und schlich mich auf leisen Sohlen nach oben in mein Zimmer. Dort verbrachte ich den Abend. Ich aß meinen Teller Milchreis und erledigte den Rest meiner Hausaufgaben. Mir war noch immer kalt, als ich mich versuchte in mein Bett zu kuscheln. Aus für mich unerdenklichen Gründen zog ich Jonathans Pullover über, den ich noch immer in meiner Kommode versteckt bei mir hatte. Vielleicht wollte ich ihm so nahe sein, wo ich doch umgeben von Kälte war, aber vielleicht war mir auch einfach nur kalt und sein Pullover war nun mal der dickste in meiner Kommode. Ich seufzte und kuschelte mich in den Pullover. Unter der Decke wurde es langsam wärmer. Plötzlich sah ich in der Dunkelheit mein Handy aufleuchten. Verwirrt zog ich es zu mir. Die Nummer war mir unbekannt, weshalb ich eine innerliche Diskussion mit mir selbst führte, ob ich das Gespräch annehmen sollte. Schlussendlich gewann die Neugier in mir und ich hob ab. "H-hallo?", fragte ich unsicher ins Leere. "Abby? Ich bin es Anthony. Vanessa hat mir deine Nummer gegeben. Ich wollte nur sicher gehen, dass es dir gut geht oder zumindest besser geht." Überrascht lauschte ich seiner Stimme. Mit Anthony hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht hatte ich sogar für einen Moment die leise Hoffnung, dass Jonathan mich von einem anderen Handy anrufen würde, aber den Gedanken vergaß ich schnell wieder. "Mir geht es besser. Ich habe mich untersuchen lassen. Es ist alles in Ordnung.", stotterte ich. "Das ist schön. Ich hatte mich so erschrocken, als du plötzlich umgefallen bist.", gab er offen zu. "T-tut m-mir leid." "Nein, das muss es nicht. Du kannst ja nichts dafür. Jetzt kann ich verstehen, warum du mir das Sezieren überlassen hast.", sagte er und begann zum Ende hin zu lachen. Auch ich musste mir eingestehen, dass sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen legte. Sein Lachen war einfach ansteckend. "Du hättest das Gesicht der Biologielehrerin sehen müssen. Sie war total überfordert und geschockt." Anthony lachte noch immer. "D-das k-kann ich m-mir vorstellen.", murmelte ich und versuchte mir das Gesicht unserer Lehrerin zu verbildlichen. "Was war eigentlich mit Jonathan los? Was wolltest du von ihm?", fragte er nachdenklich. Ich hielt den Atem an. Was sollte ich sagen? Was sollte der Nerd von dem Badboy der Schule wissen wollen? Gibt es einen plausiblen Grund, warum ich ihm nachgerufen haben könnte, ohne unsere Verbindung preis zu geben? Fraglich ist ja auch, ob es diese Verbindung überhaupt noch gibt. "Abby?", fragte Anthony unsicher. "Es ging um das Projekt, wobei wir zusammen arbeiten müssen. Er wollte mir einfach nicht zu hören.", stotterte ich hervor. "Das kann ich mir vorstellen. Jonathan ist echt ein Idiot. Mache dir nichts daraus. Du kannst den Lehrern ja auch sagen, dass er dich im Stich lässt oder man nicht mit ihm zusammenarbeiten kann." Anthony klang nun ganz anders, viel ernster, als ob er selbst schlechte Erfahrungen mit Jonathan gemacht hatte. Na ja, andersherum wird er ihn gut kennen, wenn er und Vanessa mit seinem Stiefvater verwandt waren. Trotzdessen packte mich die Neugier und ich wagte es zu fragen: "Kennst du ihn näher?" Ich kannte die Antwort durch Vanessa schon, aber mein Bauchgefühl ließ nicht locker, dass da noch mehr sein könnte. "Ja leider, sein Stiefvater ist mein Onkel und ich bin mit Max im Footballteam. Wir sitzen zwar die meiste Zeit auf der Ersatzbank, aber wir sind trotzdem Teil des Teams. Tja und ich habe Jonathan in der Familie sowie als Kapitän auf dem Platz nur als Idiot kennengelernt, dem andere total egal sind.", seufzte er sichtlich genervt. "K-kann ich m-mir vorstellen.", murmelte ich und ließ den Satz noch etwas in der Luft hängen, in der Hoffnung Anthony würde noch mehr Details preis geben. Doch da wurde ich enttäuscht. Es war kurz still, weshalb ich mich vergewisserte, ob Anthony noch am Telefon war. "Ja, ich bin noch da. Tut mir leid, ich war kurz abgelenkt.", entschuldigte er sich. "Schon okay, Anthony, ich würde gerne schlafen. Ich bin total müde.", stotterte ich. Mir war unwohl dabei diesen Vorwand zu nennen, um das Gespräch zu beenden, aber es war eine peinliche Stille entstanden und ich telefonierte nicht wirklich gern. "Ja klar, du solltest dich ausruhen. Wir sehen uns ja morgen. Gute Nacht, Abby.", sagte er und man hörte, dass er am anderen Ende der Leitung lächelte. "G-gute N-nacht.", antwortete ich und nach zwei Sekunden hatte Anthony aufgelegt. Einerseits war es wirklich nett und süß, dass Anthony sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt hatte, andererseits kamen mir seine Sorge und seine Bemühungen der letzten Tage auch etwas komisch vor. Schließlich interessierte sich normalerweise niemand für mich. Wieso sollte Anthony dann Zeit mit mir verbringen und wieso versucht er immer mit mir ein Gespräch aufzubauen? War es vielleicht eine List oder eine Wette? Irgendwie vertraute ich Anthony nicht? Aber vielleicht war ich auch einfach zu übervorsichtig. Plötzlich erschrak ich, denn mein Handy leuchtete erneut auf. Im ersten Moment dachte ich, Anthony hätte vergessen mir noch etwas zu sagen, aber seine Nummer leuchtete nicht auf meinem Display. Mein Herz blieb mir stehen, als ich Jonathans Namen las. Sollte ich abnehmen? Mir wurde plötzlich ganz heiß und dann wieder kalt. Was sollte ich tun? Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, drückte mein Finger auf den grünen Hörer und mit zittrigen Fingern hob ich das Handy an mein Ohr. "Abby?", fragte Jonathans Stimme ins Handy. "J-ja." Ich bekam das Wort kaum aus meinem Mund, weil ich einen Kloß im Hals hatte. "Hey.", sagte er zu meiner Überraschung ziemlich glücklich ins Telefon. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. "Hey.", erwiderte ich stotternd und verunsichert. "Es tut mir leid, ich hätte dich nicht schubsen sollen. Ich bin so ein Idiot. Es tut mir leid.", lallte er ins Telefon. Nun war es klar. Jonathan rief mich gerade vollkommen betrunken an. Wieso hatte er so viel getrunken? Sofort stieg Sorge in mir auf, obwohl ich sauer sein sollte. "Wo bist du?", fragte ich ängstlich, denn man hörte im Hintergrund Menschen laut reden und jubeln. "Abby, bist du sauer auf mich?", fragte er ohne dabei meine Frage zu berücksichtigen. "Ja, weil du mir keine Chance gibst. Ich möchte dir alles erklären, aber du stößt mich die ganze Zeit weg.", gab ich offen zu in der Hoffnung, dass er mir nun eine Chance einräumen würde. Natürlich nicht jetzt, ich würde mir wünschen, dass wir einfach in den nächsten Tagen reden könnten. "Du hast nicht gestottert, natürlich bist du sauer.", sagte er ziemlich amüsiert. "W-was?", fragte ich perplex. "Wenn du sauer auf mich bist, stotterst du weniger." Zu meinem großen Unverständnis schien ihn diese Tatsache sehr zu belustigen. Ich blieb stumm, denn ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. "Abby, hast du aufgelegt?", fragte er verwirrt. "N-nein." "Ich habe dich echt total falsch eingeschätzt, Abby. Matthew und du habt einfach euer irres Spiel durchgezogen und mich die ganze Zeit verarscht. Du bist Matthews billige Hure." Seine Worte verletzten mich tief und ich konnte es nicht verhindern, dass mir im nächsten Moment die ersten Tränen die Wangen herunter liefen. Er hatte das alles komplett falsch verstanden. "Jonathan, hör mir zu. Ich habe kein Spiel gespielt. Ich bin Matthews Cousine. Lass uns bitte morgen sprechen. Ich will dir alles erklären. Alles, was ich dir erzählt habe, alle Momente, die wir zusammen geteilt haben, waren echt. Jonathan, es tut mir leid, ich...", stotterte ich mir vom Herzen bis Jonathan mich einfach unterbrach: "Weinst du?" Total perplex hielt ich kurz inne. Hatte er mir überhaupt zugehört? Hatte er verstanden, was ich ihm sagen wollte? "N-nein.", log ich leise. "Ich weiß, dass du lügst.", lallte er mit einem mahnenden Unterton, der in dieser Situation eher lächerlich klang. Aber aufgrund der emotional aufgeladenen Angelegenheit war mir nicht zum Lachen zu Mute. "Jonathan, bitte lass uns morgen reden.", flehte ich erneut mit der letzten Hoffnung, dass er nachgeben würde. Es blieb still. Nervös tippte ich mit meinen Fingern auf meine Matratze und hielt den Atem an. "Freitag Nachmittag beim Krankenhaus?" Sofort stimmte ich zu und Hoffnung brannte wieder in mir auf. Plötzlich hörte ich im Hintergrund männliche Stimmen, die Jonathan riefen. "Abby, ich muss auflegen.", sagte er kurz und im nächsten Moment war das Telefonat beendet. Total verwirrt lag ich nun auf meiner Matratze und wusste, dass ich auch diese Nacht kaum ein Auge zu machen könnte.

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