Kapitel 59

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"Du hattest einen Unfall. Ein Auto hat dich angefahren und Matthew hat dich gefunden. Der Fahrer muss einfach weg gefahren sein. Wie kann man so etwas nur machen?" Dr. Brenigan war wutentbrannt, doch als sie mir das angeblich Geschehene schilderte, versuchte ich mich angestrengt zu erinnern. Aber so sehr ich es auch versuchte, ich sah kein Auto, hörte keinen Knall, nein, ich spürte Tritte und Schläge und dann war es klar. Ich wurde nicht angefahren. Erneut war ich das Opfer meines Onkels. Das ergab rückblickend nun auch mehr Sinn. Warum sollte mich einfach so ein Auto anfahren? "Du bist im Krankenhaus, aber alles wird gut.", versicherte mir Matthew ruhig, aber das war ich keineswegs. Denn noch immer hatte mir niemand gesagt, wo ich verletzt war. "Du hast eine Gehirnerschütterung, mehrere schwere Prellungen und eine gebrochene Hand.", erklärte Dr. Brenigan und schaute mich mitleidig an. Ich schluckte und versuchte an mir herab zu sehen. Da, wo heute morgen noch meine Schiene war und dann ein Verband meine Hand zierte, ist nun ein dicker Gips. Der Müdigkeit zu urteilen und dem schwindeligen Gefühl wurde ich wahrscheinlich bereits operiert, denn ich fühlte mich wie nach einer Narkose. "Wie gesagt, du hattest unheimliches Glück.", sagte Matthew und sein Unterton in der Stimme verriet mir, dass ich keine Zweifel zu der Geschichte mit dem Auto äußern dürfte. "Was ist mit der Rechnung? Wie viel wird es sein? Was muss ich zurückzahlen?", stotterte ich verzweifelt, denn schlagartig wurde mir bewusst, dass es besser gewesen wäre, wenn Matthew mich einfach auf dem staubigen Boden unseres Hauses liegen gelassen hätte. Im Krankenhaus zu sein, bedeutete nur wieder Unmengen an Geld zu verlieren. "Mache dir darum mal keine Sorgen.", sagte Dr. Brenigan zwinkernd und streichelte sanft über meine Wange. Ihre Gesten erinnerten mich so schmerzlich an Mom, dass ich Tränen unterdrücken musste. "Ich, ich m-möchte nicht, d-dass Sie G-geld für m-mich ausgeben.", versuchte ich stark zu sagen, aber dafür fühlte ich mich einfach zu schwach. "Lass das mal meine Sorge sein.", sagte sie beruhigend. "Du solltest dich ausruhen, Abby.", sagte Matthew ernst und sah mich tatsächlich besorgt an. "Da hat er recht. Ich werde dich noch schnell untersuchen und danach solltest du schlafen.", stimmte Dr. Brenigan zu und holte ein Klemmbrett hervor. Während einer kurzen Untersuchung, in der Matthew draußen bleiben musste, schaute Dr. Brenigan, ob alles den Umständen entsprechend war. Bevor sie den Raum verließ, beugte sie sich etwas zu mir. "Er weiß nichts, soll ich ihm Bescheid geben? Willst du ihn bei dir haben?", flüsterte sie so leise, dass ich es kaum verstand. Ich brauchte nicht fragen, wen oder was sie meint. Es war vollkommen klar, worauf sie anspielte. Also nickte ich, denn auch, wenn ich nicht wusste, wie ich das erklären sollte, wollte ich nichts anderes, als bei ihm zu sein. Sie lächelte mich glücklich an und verschwand im Flur. Daraufhin kam Matthew noch einmal kurz herein und fragte mich, was passiert sei. Ich schilderte ihm meine Erinnerungen so gut es mit leichtem Gedächtnisverlust möglich war. Wieder drohte er mir, dass ich kein Wort über die Gewalt verlieren dürfte und bei seiner erfundenen Geschichte bleiben müsste und mir war bewusst, dass mir nichts anderes übrig blieb. Nach einer halben Stunde ging Matthew. Wir hatten auch kurz über Dr. Klopp gesprochen, denn ich war wirklich wütend auf ihn. Doch Matthew beeindruckte meine Wut nicht. Komplett desinteressiert wies er mich nur daraufhin, dass er mir ja gesagt hätte, dass Dr. Klopp unter der Hand bezahlt werden müsste. Das steigerte nur meine Wut, doch wenigstens bot Matthew mir an mit ihm zu sprechen und ihm auch Bescheid zu geben, dass ich nun morgen nicht mehr putzen könnte. Kurz nachdem Matthew gegangen war, fielen mir vollkommen erschöpft die Augen zu. Als ich wach wurde, war mir ziemlich warm. Irritiert versuchte ich klare Gedanken zu fassen und spürte plötzlich einen Arm um mich herum. Mein Rücken schmiegte sich an eine starke Brust. Als ein viel zu bekannter Geruch in meine Nase zog, blieb kein Zweifel mehr, dass Jonathan an mich gekuschelt hinter mir lag. Also hatte Dr. Brenigan ihm Bescheid gegeben. Sofort entspannte ich mich in seinen Armen und atmete erleichtert aus. Glücklich bildete sich ein Lächeln in meinem blassen Gesicht. Vorsichtig drehte ich mich etwas in seinen Armen und konnte nun in sein schönes Gesicht sehen. Seine Augen waren geschlossen und ein leichtes Lächeln umspielte im Schlaf seine Lippen. Er war einfach unheimlich attraktiv, sogar wenn er schlief. Es war dunkel im Raum und durch die nur halb zugezogenen Vorhänge schien der Mond schwach herein. Er tränkte den Raum in mattes Licht und erhellte so die Dunkelheit. Sanft legte ich meine Hand an seine Wange und streichelte herüber. Wie konnte ich nach all diesen Monaten des Leids nur solch ein Glück haben, dass dieser Junge nun neben mir lag? Mir war bewusst, dass ich ihm niemals das Wasser reichen könnte. Die Frage ist, warum er sich trotzdem mit mir abgibt. Schließlich wusste doch jeder, dass er in der Hierarchie der Schule ganz oben stand und ich ganz unten. Ich habe keine Ahnung, was er in mir sieht, denn ich sehe es nicht. Keineswegs war ich hübsch noch besonders intelligent oder sprachgewand. Auch war ich nicht sehr offen noch extrovertiert. Nein, ich bin und bleibe wahrscheinlich immer das Gegenteil von allem, was ich zuvor aufgezählt habe. Also was sieht er in mir? Wieso gibt er sich freiwillig mit mir ab? Warum verbringt er seine Freizeit mit mir und meinen Problemen, wo er es doch viel leichter haben könnte? Ich erschrak etwas, als sich seine Hand zärtlich auf meine Wange legte. "Ich wache auf und sehe, dass du dir mitten in der Nacht den Kopf zerbrichst.", sagte er amüsiert mit seiner müden rauen Stimme, die eine Gänsehaut bei mir auslöste. "Tut mir leid.", flüsterte ich in die Stille, die sich um uns herum wie eine Hülle legte. Er schüttelte lachend den Kopf. Irritiert sah ich ihn an. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, als Mom mich angerufen hat. Ich bin sofort zu dir gefahren, aber du hast schon tief und fest geschlafen. Und jetzt wache ich auf und sehe dich wie immer in deinen Gedanken verloren. Mom hatte zwar gesagt, dass du Glück im Unglück hattest, aber dich jetzt so zu sehen, beruhigt mich erst richtig." Ich begann zu lachen. Das konnte er doch nicht ernst meinen. Es ist also beruhigend mich in meinen Gedanken versunken zu sehen? Doch so mehr ich darüber nachdachte, umso klarer wurde es. Was würde ich dafür geben, Mom lächeln zu sehen oder ihr Gesicht, wenn sie sich vor etwas ekelte und dabei die Nase hochzog, sodass sich Falten auf ihrem Nasenrücken bildeten. Es war ein merkwürdiger Gedanke, aber meistens sind es die kleinen Dinge, die man am meisten vermisst und die einfach zu einem Menschen dazu gehören und ihn auszeichnen. "Wie geht's dir?", fragte er leise und strich dabei zwei, drei verirrte Strähnen hinter mein Ohr. "Ich habe Schmerzen, aber die Schmerzmittel machen es aushaltbar.", stotterte ich ehrlich, denn ich sollte aufhören ihn anzulügen. Jonathan ist so gut zu mir und ich danke es ihm mit Notlügen. "Ich kann auch Mom holen.", sagte er besorgt, doch ich schüttelte nur lächelnd den Kopf. "N-nein, bleib b-bei mir." Etwas verwirrt sah er mich an, wahrscheinlich hatte er mit dieser Aufforderung nicht gerechnet. "B-bitte.", fügte ich unsicher hinzu, weshalb er zu lachen begann. "Wenn du mich so bittest, kann ich schlecht nein sagen, oder?" Er grinste mich schief an und beugte sich vor, um meine Stirn kurz zu küssen. Seine weichen Lippen berührten nur für ein Hauch einer Sekunde meine Stirn und trotzdem begann mein Herz in meinem Brustkorb wild zu pochen. Plötzlich wurde seine Miene ernst und in seinen Augen zeichnete sich seine aufkommende Wut ab. Ich wurde unsicher, denn tief in mir wusste ich, was er nun ansprechen würde. "Mom, hat gesagt, ein Auto hätte dich angefahren. Doch ich glaube, wir wissen beide, dass es kein Auto war.", flüsterte er gepresst und aufgebracht. "Jonathan.", begann ich, doch er unterbrach mich einfach: "Dieser Mistkerl! Wenn er dich noch einmal berührt, wie kann er dir nur so weh tun? Ich bringe ihn um!" "Jonathan.", versuchte ich es erneut, um ihn von seiner aggressiven Wut abzulenken. "Ich bringe ihn um! Du wirst nicht zurück gehen. Er darf dir einfach nicht mehr weh tun!" "Jonathan, sieh mich an!", forderte ich nun ernster und sein Blick traf endlich wieder den meinen. Beruhigend legte ich meine Hand auf seine. Er seufzte frustriert. "Jetzt sage nicht, das irgendetwas, was er dir angetan hat, gerechtfertigt war!" Ich schüttelte den Kopf. "Nur ich muss zurück. Ich kann nirgendwo anders hin.", flüsterte ich in die Stille. "Du weißt, dass das nicht stimmt, Abby. Du kannst zu mir. Ich rede mit Mom oder wir gehen zum Jugendamt." "K-können wir b-bitte später d-darüber reden?", fragte ich hoffnungsvoll, auch wenn ich wusste, dass ich mich nicht vor diesem Gespräch drücken könnte, denn so würde ich es nur verschieben. Er legte seine Stirn in Falten und wirkte genervt. Doch dann wurden seine Gesichtszüge sanfter. "Bist du müde?" Ich nickte und das war nun keine Notlüge, denn ich war wirklich fertig. Ich fühlte mich so ausgelaugt. "Okay, aber das Gespräch ist nicht zu Ende.", sagte er ernst und ich nickte ihm zu. Sanft streichelte er über meine Wange. "Komm her.", flüsterte er und zog mein Gesicht vorsichtig zu dem seinen, nur um unsere Lippen in einem leidenschaftlichen Kuss miteinander zu verbinden. Mein Herz begann wild zu pochen und mein Körper kribbelte überall. Wir lächelten in den Kuss hinein und genossen die Nähe des anderen. Danach kuschelte ich mich an seine Brust und schlief mit dem unweigerlichen Gedanken ein, dass ich langsam fiel und nur hoffen konnte, dass er da sein würde, um mich aufzufangen. Das, was ich unwiderruflich für ihn fühlte, war nicht nur Freundschaft, nein, es war mehr und das machte mir Angst.

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