Kapitel 54

720 40 4
                                    

"D-denkst du d-das w-wirklich?" Ich sah ihn noch immer geschockt und entgeistert an. Seine Worte hatten mich mitten ins Herz getroffen. Wieso denkt er nur so schlecht von sich? Er hat so viel Gutes für mich in den letzten Wochen getan und er war stets für mich da. Wie kann er dann nur so von sich denken? Er ist nicht schlecht für mich. Nein ganz im Gegenteil, er ist gut für mich. Jonathan tut mir unendlich gut. Bei ihm kann ich ich selbst sein und meine Probleme sowie Sorgen vergessen. Nun sah er fast beschämt auf seine Hände und wirkte für einen Moment wieder so verletzlich, auch wenn er dies immer zu versteckte und nicht zu ließ im Alltag. "Ja, das denke ich.", seufzte er und fasste sich in den Nacken. "D-dann liegst d-du falsch.", entgegnete ich ihm ernst und brachte ihn so dazu mir verwundert in die Augen zu sehen. "Jonathan, du hast mir in den letzten Wochen mehr geholfen und zur Seite gestanden als alle anderen Menschen. Du warst immer für mich da und hast mich aufgebaut. Es ist, als wäre an deiner Seite alles einfacher, als gäbe es die Probleme nicht beziehungsweise sie wirken plötzlich nicht mehr unlösbar. Jonathan, ich verbringe liebend gerne mit dir Zeit und ich bereue keine Sekunde der letzten Wochen, die ich mit dir verbracht habe. Du tust mir gut, Jonathan. Wirklich!", stotterte ich. Zu Beginn meiner Rede wirkte er noch wenig überzeugt, doch nun lächelte er mich glücklich an. "Denkst du wirklich so über mich?", fragte er sichergehend, um letzte Zweifel auszuräumen. Ich nickte ihm bestätigend und lächelnd zu. "Komm her.", sagte er leise und ich beugte mich zu ihm vor. Sofort zog er mich in seine Arme und drückte mich sanft an seine Brust. Wir verweilten kurz in den Armen des Anderen und genossen die Wärme und Zweisamkeit des Augenblicks. Ich wusste, ich müsste bald aussteigen, um pünktlich zu Hause zu sein, aber mein Körper sträubte sich förmlich dagegen. Mir fehlte jegliche Kraft mich aus seinen starken Armen zu lösen. Sein Kopf lehnte sanft an den meinen und seine Hand streichelte meinen Rücken hinauf und hinunter. "Mom wird mich morgen nicht zur Schule gehen lassen. Wenn Vanessa wirklich so ist, wie du sie beschrieben hast, dann verbringe morgen bitte etwas Zeit mit ihr und ihren Freunden. Da bist du sicherer als allein. Ich möchte nicht, dass Matthew oder Melania dir irgendetwas antun.", flüsterte er ernst. Ich nickte gegen seine Brust und schloss die Augen, um die letzten Sekunden in vollen Zügen zu genießen. "Pass einfach bitte gut auf dich auf und wenn irgendetwas passiert oder du einfach weg möchtest, dann rufe mich an. Ich werde dich sofort holen und du kannst jederzeit zu mir kommen." Wieder nickte ich. "D-das w-werde ich." Meine Stimme klang gedämpft durch seinen Pullover, aber ich wusste, dass er mich gehört hatte. "Ich will dich nicht gehen lassen." Der Satz verhallte dumpf in der Stille des Autos. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er hatte genau das ausgesprochen, was ich die ganze Zeit schon gedacht hatte. Ich will ihn nicht verlassen und ich will nicht zurück zu meinem Onkel und Matthew zurück. Verdammt, ich will einfach bei ihm bleiben! Ich seufzte traurig und sein Griff wurde lockerer. Vorsichtig löste ich mich etwas von ihm, um ihn anzusehen. "Ich will auch nicht gehen." Zärtlich legte er seine Hände an meine Wangen und lächelte mich bittersüß an. In seinen Augen blitzte der kurze Schimmer von Stolz auf, bevor er in der Trübe des Kummers der bevorstehenden Trennung ertrank. "Du hast nicht gestottert." "Ich, ich w-weiß.", sagte ich lächelnd. "Du musst gehen, sonst kommst du zu spät." Ich nickte traurig. Schnell küsste er mich zärtlich auf die Stirn. "Ich hole dich morgen vom Krankenhaus ab.", sagte er, während er sich langsam von mir löste. "O-okay." "Soll ich dich auch hinfahren?" Ich schüttelte den Kopf. So gern ich seinem Vorschlag zustimmen würde, wusste ich, dass ich morgen nach der Schule erst einen Termin bei Dr. Klopp wegen meinem Handgelenk hatte und davon müsste Jonathan nicht unbedingt erfahren. Schließlich hatten mich Dr. Klopp sowie Matthew eindringlich instruiert nichts von den geheimen Behandlungen zu erzählen, die der Doktor unter der Hand vollzieht und berechnet. Auch, wenn ich bei der gesamten Angelegenheit ein mulmiges Gefühl im Bauch verspüre und mich Jonathans Geleit beruhigen würde, möchte ich keinen Ärger mit Matthew und dem Arzt riskieren. "Okay, dann sehen wir uns morgen beim Krankenhaus." Er schenkte mir ein letztes Lächeln. "Bis morgen.", stotterte ich noch, bevor ich schweren Herzens ausstieg und mich auf den Weg in die Hölle auf Erden machte. Jonathans Auto verschwand in der Dunkelheit der Straßen. Die Laternen waren alle aus. Wahrscheinlich ist ein erneuter Stromausfall der Grund für das fehlende Straßenlicht und die nur leicht verschwommenen leuchtenden Lichter hinter den dreckigen Fenstern der herunter gekommenen Häuser. Es war so dunkel, man sah kaum seine eigene Hand vor Augen. Schnell eilte ich nach Hause, um der aufkommenden Furcht durch die Dunkelheit zu entrinnen. Schon merkwürdig, dass man eine Ansgt einer anderen vorziehen kann, wobei doch beide einem nicht gut tun. Im Haus war auch alles dunkel, weshalb ich sofort die Kerzen anzündete, um den kargen Raum in warmes Licht zu tränken. Schnell eilte ich mit den Kerzen in die Küche. Es war nicht das erste Mal, dass der Strom ausfiel. Hier in diesem Viertel kam es mindestens einmal im Monat vor. Also suchte ich den kleinen Campingkocher und versuchte mein bestes ein warmes Mahl zu zaubern. Ich spürte mein Handy in meiner Tasche vibrieren. Schnell lauschte ich in die Stille hinein. Als ich mir sicher war, dass ich alleine war, holte ich mein Handy hervor und schaute auf die Nachricht.

J: Bin zu Hause. Wenn du willst, können wir später noch telefonieren.

Gerade als ich antworten wollte, hörte ich das allzu bekannte Knarren der Haustür, weshalb ich kurz erstarrte und dann so schnell wie möglich mein Handy in meiner Tasche versteckte. In Eile begann ich den Tisch zu decken und weitere Kerzen anzuzünden. Es dauerte nicht lange, da kam Matthew herein. Erschrocken zuckte ich zusammen. "Alles gut, ich bin es nur. Mein Erzeuger ist nicht zu Hause. Keine Ahnung wo der sich herum treibt. Wollen wir essen?" Etwas verdutzt nickte ich und nahm das Essen vom Kocher. Den stellte ich wiederum aus und brachte das Essen zum Tisch. Sofort schaufelte sich Matthew das Essen auf den Teller, als hätte er ein Jahrhundert nichts mehr gegessen. "Denkst du an den Termin morgen?", erinnerte er mich, während er zu essen begann. Ich nickte und nahm mir nun selbst etwas zu essen. Es war leise. Wir aßen still schweigend und sahen uns nicht an. Ich konnte es nicht verhindern, dass ich mich in seiner Gegenwart schrecklich fühlte. Er hatte mich gestern und heute so verletzt und doch saß er nun neben mir, als wäre nie etwas von dem passiert. In mir stieg Wut und Trauer sowie Unverständnis auf. Ich verstand einfach nicht, warum er mir immerzu weh tun musste. "W-warum hast d-du das g-gemacht?", platzte förmlich die Frage aus mir heraus, als mein Teller leer war. Verwirrt sah er mich an. "Wieso hast du mich mit Farbe beschmissen und die Fotos aufgehangen?", stotterte ich und wollte stark klingen, aber man hörte genau, wie verletzt ich war. "Weil es Spaß gemacht hat." Er zuckte mit den Schultern und aß weiter. Ich schluckte. "W-was bist d-du nur f-für ein Mensch?" Erste Tränen sammelten sich in meinen Augen. "Hier behandelst du mich gut und beschützt mich, aber wofür soll der Schutz gut sein, wenn du mich in der Schule verletzt und demütigst vor allen. Warum machst du das? Findest du nicht, dass wir hier genug leiden?", stotterte ich nun wutentbrannt. "Erzähle mir nichts von Leid, Abby! Du lebst hier erst seit ein paar Monaten. Ich lebe schon mein ganzes Leben in diesem Elend.", brüllte Matthew nun aufgebracht und stand auf. "D-das gibt d-dir nicht das R-recht andere w-wie Dreck zu b-behandeln!" Ich war nun ebenfalls aufgestanden und schaute ihn sauer an. "Nein vielleicht nicht, aber so können andere auch mal das Leid spüren, was ich jeden Tag ertragen muss. Du hattest alles, Abby. Sei froh, dass du dieses Leben bis vor Kurzem leben konntest." Matthews Augen glühten vor Wut. "Verpiss dich auf dein Zimmer, ich will dich nicht mehr sehen!", brüllte er mich nun an, sodass ich meine Tasche schnappte und nach oben in mein Zimmer rannte. Nun liefen die ersten Tränen vor Wut, Angst und Verzweiflung meine Wangen hinunter und ohne zu zögern, ergriff ich mein Handy. Ich wählte wie von selbst seine Nummer.

Ephemeral danceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt