Kapitel 62

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"Es gab ein Zwischenfall im Krankenhaus. Steve und ich haben sie zu uns geholt. Komm doch mit nach unten, dann kann ich dir alles in Ruhe erklären.", versuchte Dr. Brenigan ihren Sohn zu beruhigen. "Was für ein Zwischenfall? Ist ihr etwas passiert? War ihr Onkel im Krankenhaus?" Jonathan war noch immer wütend und laut, doch man hörte nun zunehmend Sorge aus seiner Stimme. "Bitte komme mit mir nach unten, dann kann ich dir alles erzählen." Es wurde kurz still im Flur und ich hatte schon fast vermutet, dass Jonathan der Bitte seiner Mutter gefolgt ist, als er das Wort ergriff: "Brauchst du nicht, ich schaue selbst nach ihr." Seine Stimme war nun ruhiger und gefestigter, so als würde seine Wut abebben. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Ich lag noch immer eingekuschelt im Bett mit dem Rücken zur Tür. Er konnte auf den ersten Eindruck nicht erkennen, ob ich wach bin. Leise fiel die Tür zurück ins Schloss und ich hörte leise Schritte, die sich dem Bett näherten. Er schien um das Bett herum zu gehen zu mir. Plötzlich legte sich seine warme Hand auf meinen Kopf und streichelte zärtlich durch mein Haar. Ich wurde aus seinem Verhalten nicht schlau, noch vor wenigen Minuten war er wutentbrannt, wirkte, als wolle er mich nicht bei sich haben und nun war er wieder zärtlich. Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Jonathan hockte vor dem Bed. Er sah etwas verschwitzt und müde aus. Trotzdessen fand ich ihn selbst in diesem Zustand zweifellos wunderschön. Seine Augen begannen zu leuchten, als sich unsere Blicke trafen. "Wie geht's dir, Abby?", fragte er voller Sorge in seiner Stimme. "G-ganz g-gut.", brachte ich hervor. Ich hatte ziemliche Halsschmerzen und es fiel mir sehr schwer zu sprechen. Seine Sorge entwich seinem Blick nicht. Noch immer streichelte seine Hand sanft durch mein Haar. Ich wusste, er glaubt mir nicht und mir war auch bewusst, dass ich mehr als übertrieben hatte, denn ich fühlte mich nicht gut, ganz im Gegenteil mir war kalt und jedes Körperteil wurde von Schmerzen durchzogen. Aber ich wollte tapfer sein, auch wenn ich wusste, dass ich vor Jonathan fallen durfte und ich meine Schmerzen nicht herunterschlucken muss. Sein besorgter Blick machte die Situation nur schlimmer für mich bis sich die ersten Tränen den Weg über meine Wangen bahnten und mein Wille Widerstand zu leisten dahin bröckelte. "Wie schlimm sind die Schmerzen? Sei ehrlich!" Jonathan versuchte streng zu klingen, aber es blieb bei einem kläglichen Versuch. Ich fasste mir ein Herz und überlegte mir eine möglichst ehrliche Antwort, ohne dass er sich zu große Sorgen machen müsste, doch schlussendlich brachte ich nur ein: "Schlimm", heraus. "Ich hole Mom.", sagte er festentschlossen, stand sofort auf und lief los. Statt mich zu fassen und wie zuvor einfach im Bett zu liegen, konnte ich die Tränen und das Schluchzen nicht länger zurückhalten. Mein Körper begann zu zittern und das machte die Schmerzen nur noch schlimmer. Die Zeit kam mir plötzlich unendlich vor, der kurze Moment, in dem ich allein war, fühlte sich ewig an. Das erlösende Knarren der Tür folgte meinem leisen Schluchzen. Dann stürmten Dr. Brenigan und Jonathan in das Zimmer und um das Bett herum. Als nächstes legte sich Dr. Brenigans Hand prüfend auf meine Stirn. "Abby, auf einer Skala von eins bis zehn, wie schlimm sind die Schmerzen?" "S-sieben.", krächzte ich heraus. "Mach doch endlich etwas, Mom!", forderte Jonathan ungeduldig. "Abby, ich lege dir einen Zugang. Jonathan, bitte hole den Garderobenständer aus dem Flur. Steve hat Schmerzmittel als Tropf im Kühlschrank bereit gestellt, bitte bringe einen mit.", instruierte Dr. Brenigan und Jonathan eilte ohne Nachfragen los. "Alles wird gut, Abby. Ich gebe dir gleich ein Mittel, damit dein Hals etwas abschwellen kann. Dann müsstest du besser schlucken und atmen können.", versuchte sie mich zu beruhigen. Sanft legte Dr. Brenigan ihre Hand auf meinen Arm und streichelte auf und ab. Im nächsten Moment stürmte Jonathan in den Raum. Ginge es mir besser, hätte ich die Situation sicherlich amüsant gefunden, wie Jonathan mit dem riesigen leeren Garderobenständer gehetzt durch die Tür rennt. Der Garderobenständer ließ ihn aussehen, wie einen gejagten Hirsch. Doch mehr als diese wirren Gedanken, konnte ich der Situation nicht widmen. Sofort stand Dr. Brenigan auf und nahm Jonathan den Tropf ab, während Jonathan den Ständer direkt neben dem Bett drapierte. Dr. Brenigan suchte aus ihrer Arzttasche sterile Instrumente, um einen Zugang zu legen. Jonathan hatte sich derweil hinter mich auf das Bett gesetzt und legte nun sanft seine Hand auf meine Schulter. Das Zuganglegen bereitete mir keine sonderlichen Schmerzen, schließlich kannte ich dies schon und Dr. Brenigan konnte dies meiner Meinung nach sehr gut. Zuletzt hing sie den Tropf an den Garderobenständer. "So Abby, das kann jetzt kurz dauern bis das Schmerzmittel wirkt und dann sollte es schnell besser werden. Bitte beachte, dass dich das Mittel sehr müde machen wird." Ich nickte mühsam und Dr. Brenigan betrachtete mich prüfend. "Wenn irgendetwas ist, bitte rufe mich direkt.", sagte sie streng. "Ich werde bei ihr bleiben und wenn etwas ist, werde ich dich holen, Mom.", antwortete Jonathan und ich musste mir eingestehen, dass ich unheimlich erleichtert war, dass er bei mir bleiben würde. "Okay, ich bin unten." Damit verließ Dr. Brenigan leise den Raum mit einem kurzen Knacken der Tür. Ich drehte mich auf meinen Rücken, um Jonathan ansehen zu können. Zärtlich strich er die Tränen von meinen Wangen und lächelte mir aufmunternd zu. "Willst du darüber reden, was passiert ist?", fragte er vorsichtig und doch konnte ich die Neugier in seiner Stimme hören. Ich schüttelte zaghaft meinen Kopf, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich es ihm erklären sollte noch die Kraft dazu. "Okay.", flüsterte er in die Stille und ich kam nicht darum herum mich zu fragen, ob er wohl enttäuscht war. Also suchte ich in seinen Augen und Gesichtszügen, doch sein Gesicht verriet nichts. "Seit wann bist du schon hier?", fragte er wahrscheinlich um ein einfacheres Thema anzusprechen. "Seit Mittag, glaub ich.", stotterte ich leise. Er nickte, um mir zu zeigen, dass er mich verstanden hatte. Doch dann wurden seine Gesichtszüge ernster. "Abby, ich kann dich nicht zurück gehen lassen." "W-wieso?" Er begann zu lachen, aber es war kein glückliches Lachen, nein es war sarkastisch. Es verstummte nur langsam in dem großen Raum und dann schaute er mich erstaunt schon fast fassungslos an. "Das kannst du nicht ernst meinen!" Doch ich blieb still und schaute ihn weiter an. "Abby, der Bastard verletzt dich, verprügelt dich und hat dich jetzt wahrscheinlich sogar schon im Krankenhaus angegriffen, sonst hätte Mom dich nicht hergebracht. Du bist da verdammt nochmal nicht sicher und ich werde keine Nacht ruhig schlafen können, wenn du bei dem Arschloch bist. Ich habe jetzt die Chance dich da heraus zu holen, ich werde nicht warten bis er dir noch schlimmeres an tut und das würde ich mir auch nicht mehr verzeihen." Jonathan war mehr als außer sich und mir war sofort klar, dass es jetzt der falsche Zeitpunkt für eine Diskussion war, weshalb ich mich dazu entschied nicht gegen ihn anzureden, vor allem weil mir gerade jetzt die Kraft dazu fehlte. "Ich weiß, dass wir eine Lösung finden müssen.", stotterte ich und hoffte so ihn etwas beruhigen zu können. Jonathan lag auf der Seite und stützte seinen Kopf mit seinem Arm sowie seiner Hand. Durch die Position schaute er auf mich herab. Es gab mir das Gefühl noch schwächer zu sein, als ich mich sowieso schon fühlte. Seine warme linke Hand legte sich erneut an meine Wange und streichelte zärtlich über sie. "Abby, ich kann einfach nicht mehr zu lassen, dass dir jemand weh tut. Es geht nicht.", sagte er ernst und schaute mir tief in die Augen. "Dafür hab ich dich zu gern.", flüsterte er gedankenverloren und ich wusste nicht, ob ihm bewusst war, dass er dies gerade laut ausgesprochen hatte. Seine eisblauen Augen, die so oft von Kälte erfüllt waren, strahlten nun so viel Wärme und Zuneigung aus, dass ich eine Gänsehaut bekam. Während wir so da lagen, begann das Schmerzmittel deutlich zu wirken. Die Schmerzen ebbten wellenartig ab und meine Augenlider wurden zunehmend schwerer. Meine Augen fielen nun immer wieder zu, aber ich wollte noch nicht schlafen. Diese Momente mit Jonathan waren einfach zu kostbar, um sie durch Schlafen zu vergeuden. "Wie sind die Schmerzen?", fragte Jonathan und strich zwei, drei verirrte Strähnen hinter mein Ohr. "B-besser.", gab ich ehrlich zu. "Abby, du solltest schlafen. Ich sehe, wie müde du bist.", meinte er besorgt, als er mich musterte. Ich schüttelte schnell vorsichtig meinen Kopf. "Nein, ich will noch nicht schlafen." Jonathan seufzte. "Keine Sorge, ich werde hier sein, wenn du aufwachst, versprochen.", versicherte er mir lächelnd und zog mich ganz vorsichtig zu sich, damit ich mich an ihn schmiegen könnte. Zaghaft legte ich meinen Kopf auf seine Brust und Jonathan schmiegte seinen Arm beschützend um mich. Es dauerte gefühlt nur wenige Sekunden bis mich der Schlaf überfiel und meine Augen wie von selbst zufielen.

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