Kapitel 26

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Zügig und fröstelnd lief ich schnellen Schrittes zur Schule. Ich war unheimlich müde, aber ich müsste nur noch diesen Tag herum bekommen, dann wäre Wochenende und ich könnte zumindest etwas länger schlafen. In der Schule waren zum Glück kaum Schüler zu sehen. Es war noch sehr früh, irgendwann war ich einfach aufgestanden, denn die zehn Minuten mich weiter im Bett zu wälzen, hätten mich nicht wacher gemacht. Also verkrümelte ich mich still und leise in meine Ecke in der Bibliothek. Doch vor lauter Müdigkeit fiel es mir schwer mich zu konzentrieren. Ich hatte es nicht mal geschafft ein Kapitel zu lesen. Seufzend machte ich mich frühzeitig auf den Weg in den Klassenraum, um möglichst wenigen auf den Weg dorthin zu begegnen. Meine Gebete wurden erhört, denn ich kam unversehrt an und konnte mich auf meinen Platz fallen lassen. Nach und nach kamen die ersten Schüler. Einige tuschelten darüber, dass ich ein Streber sei, denn niemand würde immer so früh freiwillig im Unterricht sein. Ich versuchte es zu ignorieren und suchte meine Materialien aus meiner Tasche. Es waren fast alle da bis auf die Beliebten. Ich merkte, wie mein Körper sich anspannte, meine Atmung schneller wurde und meine Gedanken zu rasen begannen. Mit jeder Sekunde, die dem Klingeln zum Unterrichtsbeginn näher kam, wurde ich nervöser. Wie geht es ihm? Ist er auch verletzt? Kommt er heute zur Schule? Wie wird er auf mich reagieren? Wird er überhaupt reagieren oder mich ignorieren? Was war gestern passiert? Was ist diese merkwürdige fragliche Sache, in die Matthew und Jonathan rein geraten waren? Wurden beide verprügelt? Haben sie sich gewehrt oder haben sie die Schlägerei ausgelöst? Sind sie in Gefahr? Plötzlich ging die Tür auf und zum Vorschein kamen Chris und Matthew. Matthews Verletzungen waren kaum noch zu sehen. Sein Jochbein glänzte leicht blau und an seiner Augenbraue sah man Kruste. Seine Lippe sah noch verletzt aus, aber insgesamt machte er nicht mehr den Anschein, dass er gestern Abend in eine schlimme Schlägerei verwickelt war. Mein Herz schlug immer schneller, denn unterbewusst hatte ich nur auf Jonathan gewartet, doch er kam nicht durch die Tür. Ist er zu Hause geblieben? Sind seine Verletzungen vielleicht so schlimm, dass er zu Hause bleiben musste? Oder sogar ins Krankenhaus musste? Das Knarren der Tür ließ mich aufschrecken. Schnell schaute ich hoch und da war er. Besorgt musterte ich ihn von Kopf bis Fuß und zugleich hatte ich ungeheure Angst davor, dass sich unsere Blicke treffen könnten. Er sah im Gesicht komplett unversehrt aus. Ich musterte ihn zweimal, dreimal, sogar noch ein viertes Mal, aber sein Gesicht war wie immer makellos schön. Er hatte nicht zu mir gesehen, auf seinem Weg nach hinten. Erleichtert entspannte ich mich und all meine Sorge und Angst fiel mir von den Schultern. Doch nach der Erleichterung kam sofort der Zweifel. Hieß sein Verhalten nun, dass er mich ignorierte? Mir war bewusst, dass er jeden Grund hatte, um sauer auf mich zu sein. Schließlich schuldete ich ihm noch eine Antwort und ich hatte ihn gestern gleich zweimal stehen gelassen. Angestrengt versuchte ich mich auf den Unterricht zu konzentrieren, um bloß nicht nach hinten zu schauen. Irgendwann gab ich es auf und versuchte so unauffällig wie möglich meinen Blick kurz auf ihn zu richten. Seine kastanienbraunen Haare fielen ihm leicht ins Gesicht. Sie waren nicht gestylt, sondern lagen einfach etwas verwuschelt auf seinem Kopf und trotzdem sah er verboten gut aus. Ich stellte fest, wie mir die Luft weg blieb und mein Herz schneller schlug. Mein Blick verweilte schon viel zu lange bei ihm, aber ich konnte einfach nicht wegsehen. Er schaute fokussiert auf seinen Block vor sich, doch auf dem stand nichts. Besorgt stellte ich fest, dass die Knöchel seiner Hände blau und lila schimmerten. Matthew hatte nicht gelogen. Jonathan war also eindeutig auch in die Schlägerei verwickelt. Nur schien er nichts abbekommen zu haben. Als würde er meinen intensiven Blick auf sich spüren, schaute er plötzlich auf. Sofort traf sein Blick auf den meinen. Das intensive Eisblau traf auf mattes Braun. Unsicher hielt ich den Blickkontakt. Seine Augen schauten mich erst nur ausdruckslos an bis sich plötzlich Wut in ihnen spiegelte und er seinen Blick abwandte. Schnell schaute ich zurück nach vorne. Also war er doch sauer auf mich, aber wie sollte ich ihm das verübeln. An seiner Stelle wäre ich auch sauer. Nachdem Klingeln rannte ich förmlich aus dem Klassenraum und vermied jeglichen Kontakt mit anderen so gut es ging. Vor allem ging ich Jonathan aus dem Weg. Tief in mir drinnen hatte ich das Gefühl, dass ich seine Wut noch spüren würde, weshalb ich mich wirklich vor ihm versteckte. Der Tag verlief glücklicherweise recht ruhig. In der Mittagspause hatte ich mal wieder den Ansturm abgewartet und hatte mich nun angestellt. Endlich an der Reihe bestellte ich wie immer das Beilagenbrötchen, als mir die alte Dame an der Ausgabe einfach das Hauptgericht mit auf das Tablett stellte. Verwirrt sah ich sie an und schüttelte den Kopf. "Kindchen, das ist schon für dich bezahlt.", erwiderte sie lächelnd. Meine Verwirrung wuchs. Wer? "Das kann ich nicht annehmen.", stotterte ich hervor. "Wir werfen es sonst weg. Der liebe Junge dort hinten hat es extra für dich bezahlt." Sie stellte den Teller zurück auf mein Tablett, da ich ihn auf den Ausgabentresen zurück gestellt hatte. Noch immer irritiert folgte ich ihrem Finger und mein Blick fiel auf Jonathan, der die Situation intensiv beobachtet hatte. Er sah mich ernst an und sein Blick verriet, dass es keine Diskussion darüber geben würde. Also nahm ich das Essen, bedankte mich bei der Verkäuferin und suchte die versteckte alte Tischtennisplatte auf, um in Ruhe alleine zu essen. Als ich ankam, seufzte ich frustriert. Was will dieser Junge von mir? Wieso bezahlt er mir mein Essen? Er ist doch wütend auf mich, wieso macht er das? Was will er mit all dem Bezwecken? Macht er sich wirklich Sorgen um mich? Total in meinen Gedanken versunken, verspeiste ich die Nudeln mit Tomatensauce. Mein Magen grummelte freudig vor sich hin, doch meine Gedanken blieben nicht still. Auch die gesamte letzte Stunde konnte ich dem Unterricht zu meinem Verdruss nicht folgen, da all meine Gedanken immer wieder zu ihm und seinem fragwürdigen wechselhaften Verhalten führten. Er macht mich verrückt. Wegen ihm würde ich nochmal in psychischer Betreuung landen, obwohl ich die wahrscheinlich wegen meinem ganzen Leben momentan jetzt schon benötige. Zum Glück machte die Englischlehrerin heute fünf Minuten eher Schluss, weshalb ich gehetzt Richtung Krankenhaus lief. Ich wollte nicht auf Jonathan treffen. Schließlich war ich schon verwirrt genug. Auf dem Weg zum Krankenhaus schaute ich mich paranoid nach seinem Auto um, aber es war nirgendwo auszumachen. Erleichterung machte sich erst in mir breit, als ich mich auf den Stuhl neben Mom's Bett gesetzt hatte. Endlich konnte ich mich wieder auf andere Dinge konzentrieren. Ich erzählte Mom von meinem Tag und machte meine Hausaufgaben. Ich verlor mich in der Englischlektüre und erwischte mich dabei zwei, drei Tränen zu verdrücken, als die Hauptcharaktere nach viel Drama zusammenkamen. Ich hatte schon oft darüber nachgedacht, wie es wohl ist verliebt zu sein. In meinen Vorstellungen war es mit das schönste Gefühl der Welt, vor allem wenn diese Liebe erwidert wird. Doch da hörten meine Tagträume auf und die Realität kam zurück mit brutaler Wucht, denn ich wusste, so wie ich war und bin, würde sich keiner in mich verlieben. Ich erzählte Mom davon, dass ich meine Erinnerungsbox geöffnet hatte und schrecklich weinen musste. Seit langem erlaubte ich es mir mal wieder vor Mom zu weinen und ihr zu sagen, wie schrecklich ich sie und Dad vermisste. Sonst versuchte ich stark zu sein, um ihr zu zeigen, dass sie sich ausruhen darf, um gesund zu werden. Traurig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und verabschiedete mich von Mom. Diese zwei Stunden gingen einfach immer viel zu schnell vorbei. Doch morgen könnte ich länger bei ihr sein. Gedankenverloren lief ich aus dem Haupteingang und prallte plötzlich gegen eine harte Brust. "E-entschuldigung." Ich schaute verwirrt auf und sah in die besorgten mir so bekannten eisblauen Augen.

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