Kapitel 55: Verlust eines Vampirkindes

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• Yara •

Baumkrone über Baumkrone, Weggabelung über Weggabelung und Holzwegweiser über Holzwegweiser. All dies zieht in bahnbrechender Geschwindigkeit an mir vorbei, während ich mich tatenlos in Isajahs fester Umklammerung befinde.

Wir sitzen zu Zweit auf der edlen Kutsche des Königs. Also, Isajah sitzt auf dem Kutscherplatz und ich sitze seitlich auf seinem Schoß. In der Kutsche selbst liegt der wohl schwer verletzte Vittorius. Achja, und mein Vampirbruder Lucan ist wie vom Erdboden verschwunden.

So habe ich mir die Geheimkammer Mission nicht vorgestellt!

„Yara, mach dir nicht so viele Gedanken. Das wird alles schon wieder", sagt Isajah dicht an meinem Ohr und streicht mir ruhig über den Rücken.

„Wäre mein Vampirleben einen Hauch normaler, würde ich mir vermutlich weniger den Kopf zerbrechen", entgegne ich angespannt. Mir ist gerade einfach nicht nach Smalltalk. Glücklicherweise bemerkt Isajah das auch ganz schnell und wir verbringen den Rest der Fahrt schweigend.

• Isajah •

Gezielt lenke ich die Kutsche von Vittorius in den Schlosshof. Wir werden bereits von ein paar Bediensteten erwartet. Elegant schwinge ich mich von der Kutsche und werfe einen strengen Blick auf Yara, bevor ich sie runter lasse.

„Bitte tu mir den Gefallen und lass Jaron und mich in Ruhe den König versorgen", sage ich mit eindringlichem Blick. Zögerlich nickt sie und macht uns Platz.

Jaron öffnet die Tür und hält den massiven Körper von Vittorius in seinen Armen. Er ist nach wie vor bewusstlos. Schnell helfe ich meinem Vampirbruder und behutsam tragen wir den König in sein Schlafgemach. Yara habe ich darum gebeten in der Wohnhalle zu warten.

Gemeinsam mit Jaron versorge ich die Wunden und lege neue Verbände an.

Bereits jetzt ist die Regeneration erstaunlich gut voran geschritten. Mir fällt ein Stein vom Herzen!

Nachdem Vittorius versorgt ist, gehen Jaron und ich in die große Wohnhalle. Geduldig sitzt Yara auf dem Sofa und starrt mit leerem Blick in die lodernde Flamme. Als sie uns bemerkt dreht sie sich direkt um und richtet ihren fragenden Blick an uns.

„Wir gehen uns erstmal frisch machen. Der König wird in den nächsten Stunden wieder auf den Beinen sein, seine Regeneration ist schon weit voran geschritten", berichte ich.

„Ich gehe auch erstmal ins Bad", entgegnet Yara.

Mit einem milden und müden Lächeln schlüpfen wir alle in unsere Gemächer.

• Yara •

Im Schlafgemach angekommen erblicke ich Vittorius, der friedlich im Bett liegt und sich erholt. Einen kurzen Moment ertappe ich mich dabei, wie ich ihn anstarre. Dann kann ich mich aber wieder schnell fangen und gehe mit ein paar frischen Wechselklamotten ins Bad.

Langsam beginne ich den Duscheimer zu befüllen. Mein Blick geht kontinuierlich in die Leere. Nach kurzer Zeit läuft das Wasser bereits über und eine dampfenfe Pfütze bildet sich auf dem Boden. Hastig besinne ich mich und beseitige meine Unachtsamkeit.

Vor meinem inneren Auge spielt sich einfach alles ab, was in den letzten Stunden passiert ist.

Mit frischen Klamotten und sauberer Haut schleiche ich mich am König vorbei und husche zurück in die Wohnhalle. Meine beiden Vampirbrüder sitzen bereits frisch und munter auf den Sesseln und unterhalten sich.

Ich versuche mir meine gedrückte Stimmung nicht zu sehr anmerken zu lassen, Jarons und Isajahs vielsagende Blicke sprechen allerdings für sich.

Schweigend beobachte ich die tanzenden Flammen und flackernden Lichter des Feuers.

• Vittorius •

Mein letzter ausgedehnter und erholsamer Schlaf ist schon einige Jahrhunderte her.

Langsam komme ich zu mir und bemerke, dass ich in meinem Bett liege. Sogar meine Wunden sind versorgt. Leise Stimmen höre ich aus dem Wohnbereich.

Wie eine Flut strömen die Erinnerungsbruchstücke in meinem Gehirn ein und ergeben Stück für Stück wieder ein Ganzes. Die Geheimkammer, die Bergung, das Vakuum und dann noch die Explosion. Die Auswirkung der Druckwelle war absolut heftig.

Von Erinnerung zu Erinnerung lande ich bei dem letzten Bild, dass ich vor meiner Ohnmacht gesehen habe: Während uns die Druckwelle erfasst sehe ich zu meiner rechten einen beunruhigenden schwarzen verzerrten Fleck in der Luft und mein Vampirsohn Lucan ist durch die Druckwelle genau darauf zu geschleudert worden. Dieses letzte Bild sehe ich gerade klar und deutlich vor mir und meine Augen weiten sich. Ich muss unbedingt nach Lucan sehen!

Angespannt beiße ich die Zähne zusammen und mache mich auf Schmerzen gefasst. Vorsichtig richte ich mich auf. Positiv überrascht stehe ich wenig später kerngesund in meinem Schlafgemach und streife die ganzen Bandagen ab. Noch schnell ein paar neue Kleidungsstücke aus dem massiven Holzschrank gefischt und angezogen und schon kann es losgehen zu Lucan.

So leise wie möglich versuche ich in die große Wohnhalle zu treten.

• Isajah •

Seit guten vier Stunden sitzen Jaron, Yara und ich auf dem Sofa und unterhalten uns. Angeregt tauschen wir uns zu den jüngsten Ereignissen aus. Yara würde am Liebsten sofort in diesem mysteriösen gebundenen und handgeschriebenen Buch lesen und forschen. Leider müssen wir aber auf Mikuls Einheit und seine Rückkehr mit den ganzen Relikten warten.

Seit einer Stunde döst Yara friedlich an mich angelehnt. Jaron hatte sie behutsam zugedeckt und ich habe vorhin meinen Arm um ihre Schulter gelegt und sie zu mir ran gezogen.

„Mein König!", unterbricht Jaron unser Gespräch als er Vittorius erblickt. Sofort springt er auf und eilt zu ihm hin. Auch Yara ist direkt wieder wach und schaut zu ihm rüber. Sachte erheben wir uns. „Wie fühlt Ihr euch?", möchte ich vom König wissen.

„Vollständig verheilt, ich danke euch", entgegnet er und zeigt seine makellose aschfahle Haut. Sämtliche tiefe Wunden und Spuren der Explosion sind spurlos verschwunden. Selbst heutzutage erstaunt mich diese fast perfekte Regenerationsfähigkeit.

Auch Yara sieht ihn erstaunt an.

„Ich muss zu Lucan, wo ist er?", kommt Vittorius direkt zur Sache.

Als wir nicht direkt reagieren und uns besorgte Blicke zuwerfen, weicht ihm alles aus dem Gesicht.

Wo. Ist. Lucan?", fragt der König erneut. Der nun zutiefst finstere Ausdruck in seinem Gesicht macht mir Angst. Selbst Yara bemerkt diese Ausstrahlung, geht einen kleinen Schritt auf mich zu und umklammert meinen Arm. Sanft lege ich die Hand meines anderen Armes auf die Hand die meinen Oberarm ziert. Wirklich beruhigen tut sie das aber nicht.

„Mein König", beginnt Jaron, doch dann versagt ihm die Stimme. Voller Furcht sieht er seinem Vampirvater in die Augen.

„Verflucht Jaron, erzähl mir auf der Stelle was los ist!", ertönt Vittorius' angespannte Stimme und hallt bedrohlich von den Wänden wieder.

„Er ist verschwunden", haucht Jaron benommen. „Nach der Explosion ... haben wir euch gefunden und versorgt ... aber von Lucan fehlt jede Spur", beendet Jaron die Erklärung.

Starr vor Schreck blickt uns der König an.

Im nächsten Moment landet die geballte Faust des Königs kraftvoll in der Wand. Er hinterlässt ein tiefes Loch und der Putz bröckelt zu Boden. Ich spüre wie Yara vor Schreck zusammenzuckt, schnell ziehe ich sie in eine schützende Umarmung. Die nimmt sie dankbar an und schmiegt sich Trost suchend an meinen Körper.

Mit zu einem schmalen Strich verzogenen Lippen eilt Vittorius aus der Wohnhalle. Der Schreck hängt noch in der Luft.

Vampirkind YaraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt