Kapitel 86: Der zweite Schattendämon

1.3K 89 9
                                    

• Yara •

Angenehme kühle Reitluft prescht mir ins Gesicht. Dieses Gefühl zu einem großen Abenteuer aufzubrechen ist wirklich fantastisch! Allerdings freue ich mich lieber innerlich, bevor ich strafende Blicke von Vittorius kassiere.

Dem König fällt die kühle Brise natürlich sofort auf und umgehend wickelt er mich in seinem Umhang ein. Allmählich stehe ich sehr auf die fürsorglichen Momente in meiner Vampirfamilie. Es fühlt sich an wie eine Familie, die ich so nie hatte. Und wie bereits erwähnt, hatte ich wirklich keine schlechte Kindheit oder dergleichen. Aber die zwischenmenschlichen, oder besser gesagt zwischenvampirischen Handlungen haben hier einen ganz anderen Stellenwert.

„Wir werden ungefähr vier Tage reiten, bis wir die Gegend erreichen", merkt Vittorius an.

Schweigend ziehen ganze Landschaften und Dörfer an uns vorbei. Interessiert schaue ich mir die Gegenden an.

Zwischendurch macht unsere Reitgruppe immer wieder mal kurze Verschnaufpausen. Betonung liegt auf kurz.

„Reicht dir die Pause oder brauchst du mehr Zeit?", fragt der König fürsorglich.

„Das passt schon. Ich melde mich schon, wenn was ist", entgegne ich. Zufrieden streicht der König über mein Haar. Dann ist die Pause auch bereits zuende.

Zum Anbruch des fünften Tages erreichen wir dann die Gegend, zu der mich die Vision führt. Zwischenzeitlich wurden wir vom unliebsamen Wetter ausgebremst. Hier herrscht allerdings strahlender Sonnenschein.

Die Skelettpferde werden am Rand des Bauerngehöfts abgestellt und die Einheiten sichern bereits die Gegend.

Jaron und Vittorius sind dicht bei mir.

„Das Gehöft scheint seit Jahren unbewohnt zu sein", merkt Jaron an.

„Ja, offensichtlich", sage ich mit Blick auf die zugewachsenen und eingefallenen Gebäude.

„Hier hat Lucan also seine Lebzeiten verbracht?", fragt Jaron interessiert. Anscheinend sind sie nie als Familie hier gewesen.

„Ja, wobei die Häuser zwischenzeitlich wohl abgerissen und neu gebaut wurden. Aber nach all den Jahrhunderten war das auch zu erwarten", entgegnet der König.

Interessiert sehe ich mich um und versuche eine Spur aufzunehmen. Ich schließe sogar die Augen und strecke meine Sinne bis auf's äußere aus.

Allerdings kann ich nichts ausmachen.

„Und?", hakt der König nach.

„Ich nehme nichts wahr. Aber ich bin mir sicher, dass wir hier richtig sind", sage ich. Irritiert schaue ich mich um und gehe einige Schritte über das alte Gehöft. Jaron und Vittorius sind mir stets auf den Fersen.

Nach einer guten Stunde wahlloses umherirren bleiben wir in der Mitte des Gehöfts stehen.

„Die Gegend ist sicher. Hier war niemand mehr seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten", berichtet Mikul, der sich nun zu uns gesellt.

Plötzlich kommt mir eine Idee.

Ich krame in meiner Tasche nach der kleinen Spieluhr. Ich will sie gerade aufmachen, doch dann halte ich inne. Versteinert bleibe ich stehen.

„Was ist?", fragt Vittorius fordernd.

„Ich höre die Melodie. Aber die Spieluhr ist nicht auf", kläre ich ihn auf. Besorgt wirft er mir ein paar Blicke zu. Selbst Jaron und Mikul wirken angespannt.

„Kannst du mich in deine Vision einladen?", wirft Jaron ein.

Ich konzentriere mich darauf, meinem Vampirbruder Einlass zu gewähren. Allerdings klappt es nicht. Kopfschüttelnd seufzt er.

Plötzlich ertönt dieser tiefe Sprechgesang. Es ist nicht derselbe Sprechgesang wie aus dem Musikzimmer, nein dieser klingt unmenschlich. Nahezu dämonisch. Tief und dunkel ertönt er weit über das Gehöft.

Oh ja, wir sind hier richtig!

„Ich kann ihn dazu singen hören", stelle ich entgeistert fest. Das hat einen absoluten Horrorfilm Charakter was hier gerade abgeht. Der Gesang des Schattendämons dringt bis tief in die Knochen.

Vittorius legt seine Hand auf meine Schulter. Ruhig sieht er mir tief in die Augen.

„Yara, sowohl meine Einheiten, als auch deine Vampirbrüder, als auch ich tun alles dafür, damit dir nichts passiert. Verstanden?", beruhigt er mich. Widerwillig nicke ich.

Er hört einfach nicht diese tiefe unmenschliche Stimme. Selbst dem großen starken mächtigen König würde dabei anders werden, da bin ich mir sicher.

Ich nehme allen Mut zusammen und gehe auf diesen furchteinflößenden Sprechgesang zu. Er kommt aus einem der heruntergekommenen Häuser, die wir eben schon durchsucht haben.

Von den Wänden stehen überwiegend nur noch die Grundmauern und die Dächer sind überwiegend eingefallen. Büsche und Bäume wachsen in und um den Mauern herum. Kurz lenkt mich dieser schöne Anblick, wie die Natur sich alles zurück holt, ab. Dann fange ich mich wieder.

Im Haus selbst auszumachen von wo der Sprechgesang kommt, ist nahezu unmöglich. Er hallt von den morschen Wänden in alle möglichen Richtungen wieder.

Ein bekanntes Gefühl durchfährt meinen Körper. Leicht schiebe ich meinen Ärmel hoch. Das dunkle Mal erstreckt sich bis zur Hälfte meines Unterarms.

„Anscheinend kommen wir hier dem Ganzen zumindest näher", merkt der König an, der mich die ganze Zeit nicht aus seinen Augen lässt.

„Die Melodie ist so laut und der Sprechgesang hallt hier überall von den Wänden wieder. Ich kann mich gar nicht richtig konzentrieren", werfe ich ein. Dabei schaue ich fast ein wenig reizüberflutet in alle Richtungen.

„Nimm dir die Zeit die du brauchst", pflichtet mir Jaron ruhig bei.

Ich stelle mich in die Mitte des Raumes und schließe meine Augen. Es dauert gefühlt eine Ewigkeit, bis ich meine heraus zu hören, aus welcher Richtung alles stammt. Ich gehe langsam links auf ein altes eingefallenes Bücherregal zu. Vorsichtig fahre ich die Konturen mit der Hand nach und komme schließlich bei der Wand an. Lose Steine halten notdürftig das Gebäude zusammen.

Instinktiv greife ich nach einem der Steine, es ist als ob mich plötzlich eine fremde Hand führt. Kraftvoll drücke ich den Stein ein Stück tiefer in das Mauerwerk.

Eine klickende Abfolge ertönt und Vittorius ist sofort bei mir. Beschützend drückt er mich an seinen Körper und auch Mikul und Jaron gehen in Angriffsposition. Einige Einheiten stürmen ebenfalls das Gebäude.

Ein lautes Knacken ertönt und mittig im Raum schiebt sich die Bodenplatte zur Seite und gibt eine gerade dunkle Treppe nach unten frei.

Mikul will bereits den Abgang erkunden, dann stemme ich mich gegen Vittorius' Arme. Angespannt drückt er mich fester an sich.

„Mikul warte!", rufe ich aufgebracht. Er hält vor der Treppe inne und sieht mich fragend an.

Eine absolute unheilvolle Vorhersehung trifft mich und ich sehe grauenvolle Bilder vor mir. Bilder wie Mikul in sämtliche Einzelteile zerrissen wird und sein letztes Stündlein geschlagen hat. Und das ganze Blut!

„Der Schattendämon ist nicht so wie der letzte. Er wird jeden töten, der auch nur in seine Nähe kommt. Ich habe es gesehen, er ist unglaublich mächtig", erkläre ich mit beunruhigter und belegter Stimme.

„Jaron, ich versuche dir nochmal die Bilder der Vision zu zeigen", sage ich und sehe Jaron eindringlich an. Er nickt umgehend.

Es dauert einen Moment, dann scheint es zu funktionieren. Jedenfalls weicht ihm sämtliche Emotion aus dem Gesicht, außer blankes Entsetzen. Plötzlich ist Mikul alles andere als scharf darauf, dort hinab zu steigen.

„Und was schlägst du jetzt vor?", fragt der König angespannt. Mittlerweile sind auch meine Vampirbrüder eingetroffen und die restlichen Männer der Einheit. Der Anspannung des Königs nach zu urteilen, weiß er allerdings genau, was nun getan werden muss.

Und das wird ihm alles andere als gefallen.

Vampirkind YaraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt