Who We Were (Mormor)

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Seine Mutter wischte sich zum wiederholten Mal mit einem Taschentuch über die Augen, welche verdächtig schimmerten. Er sah, dass sie versuchte sich zusammenzureißen, doch die Tränen waren stärker als sie. Er hätte gerne die richtigen Worte gefunden, um sie zu trösten, doch er saß stumm auf seinem Sessel zwischen seinen Eltern.

„Keine Sorge, wir werden gut auf Ihren Sohn aufpassen", sagte die Grauhaarige, die sich ihnen als Pflegerin vorgestellt hatte. Ihre Stimme klang weich und zuversichtlich. Jim wusste, dass sie diese Prozedur bereits hunderte von Malen miterlebt hatte.
Seine Mutter nickte und wischte sich erneut über die Augen.

„Mr. und Mrs. Moriarty ich würde Sie jetzt kurz rausschicken, damit wir uns noch einen Moment allein mit James unterhalten können", die Stimme des Arztes war sanft, aber bestimmt, „Das ist die übliche Prozedur. Es ist sinnvoll den Jugendlichen auch ohne die Eltern zu erleben."

Als sich die Tür hinter seinen Eltern schloss, hatte Jim das unangenehme Gefühl, die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und versuchte weder den Arzt noch die Pflegerin direkt anzusehen.

„James, gibt es etwas, was Sie uns im Beisein Ihrer Eltern nicht sagen wollten", fragte der Arzt. Auch er hatte diese Prozedur schon hundert Mal gemacht.

„Ich... ich habe mich einige Male selbstverletzt", flüsterte er. Es war das erste Mal, dass er es aussprach. Er blickte dem Arzt ins Gesicht, doch der verzog keine Miene. Stattdessen stellte er Fragen und machte sich Notizen. Wie? Wann? Weshalb? Was half?

„James, ich muss Sie das fragen, auch weil wir eine offene Einrichtung sind. Haben Sie schonmal darüber nachgedacht sich umzubringen?"

Die Direktheit der Frage erstaunte ihn im ersten Moment. Die Emotionslosigkeit, mit der sie gestellt wurde, war befremdlich. Es war, als fragte der Arzt ihn nach dem Wetter oder nach seiner Lieblingsfarbe. Vielleicht lief es für den Arzt und die Pflegerin auch auf das Gleiche hinaus, immerhin hatten sie bereits hunderte solche Gespräche geführt. Jim war nicht der erste Jugendliche, der auf dem Stuhl ihnen gegenüber Platz nahm und würde nicht der Letzte sein.

„Ja", sagte er, „Aber ich habe nicht vor mich umzubringen."

Irgendwie rauschten die restlichen Fragen an ihm vorbei. Er wurde gefragt, wie konkret seine Planung gewesen sei, ob er überhaupt geplant hatte. Man appellierte, dass er über seine Suizidalität im Austausch bleiben müsse, dass er Absprache fähig sein solle. Er nickte müde ab.

Seine Eltern verabschiedeten sich draußen von ihm. Seine Mutter weinte und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Er war froh, als sie weg fuhren.

Die grauhaarige Pflegerin brachte ihn auf die Station. Sie half ihm seine Sachen in sein Zimmer zu bringen und stellte ihm seinen Mitbewohner vor, der ihm nur kurz zu nickte, bevor er abdampfte. Es fühlte sich schrecklich surreal an.

Die Pflegerin ließ ihn allein und er begann seine Koffer auszuräumen. Sechs Monate würde er hier leben. Ein ganzes halbes Jahr. Und dann? Dann würden seine Eltern von ihm erwarten, dass er wieder in die Schule ging. Und seine Lehrer würden erwarten, dass er nun ein ganz normaler Jugendlicher wäre. Ha, normal. Nur seine Mitschüler würden ihn noch immer für einen Freak halten und ihn immer noch hassen.

Er ließ sich aufs Bett fallen und starrte auf seine halb ausgepackten Koffer. Sie kamen ihm beinahe symbolträchtig vor. Ein halbgelebtes Leben. Kein Ort, an den man gehörte.

Er musste eingeschlafen sein. Er schlief fiel in letzter Zeit.
Das Geräusch der sich öffnenden Tür weckte ihn. Sein Mitbewohner ließ sich auf das Bett gegenüberfallen, ohne ihn eines wirklichen Blickes zu würdigen. Jim nahm sich einen Moment Zeit, um den Jungen zu betrachten. Blondes Haar, blaue Augen. Ein langes Shirt und Cargo Hose.

Sherlock One ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt