Momentaufnahmen (Mormor)

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Wenn er in der Zeit zurückreisen könnte, würde er vieles anders machen.
Er würde in der Schule besser aufpassen und seinen Vater mit Stolz erfüllen. Er würde Alana fragen, ob sie ihn zum Abschlussball begleitet und dort bis in die Nacht tanzen. Er würde aufs College gehen, statt zur Army. Er würde schon viel früher zu sich selbst stehen. Aber am wichtigsten: er würde die Zeichen nicht nur erkennen, sondern auch handeln.

Er seufzte und machte sich auf den Weg die Gieskanne erneut mit Wasser zu befüllen. Tonnenschwer lag sie in seiner Hand, erinnerte ihn bei jedem Schritt an das, was er verloren hatte.
Dreimal in der Woche war er hier, goss er die Blumen, die trotz seiner Pflege nicht so richtig wachsen wollten. Jim hätte gewusst, was zu tun gewesen wäre. Jim hatte alles gewusst, war wie ein Lexikon durch die Welt gewandelt. Doch Jim würde ihn bei den Blumen nicht mehr helfen können, so wie er ihm auch bei allem anderen nicht mehr zur Seite stehen würde.

Hätte er die Zeichen doch nur früher erkannt. Hätte er sie doch bloß nicht ignoriert, aus Angst vor der Verantwortung. Hätte, hätte, hätte.
Momentaufnahmen seines Lebens blitzten vor seinen Augen auf. Jede einzelne von ihnen enthielt Jim. Jim hatte sein Leben mit Inhalt gefüllt, tat es noch immer.

Er sah ihren ersten Kuss, ihre erste gemeinsame Nacht, ihre erste gemeinsam bezogene Wohnung. Er hörte Jims Lachen, seine aufgebrachte Stimme während ihres ersten Streits. Beinahe konnte er die sanfte Berührung durch Jims immer kalte Hände auf seiner Haut spüren, konnte sein teures Aftershave riechen.
Doch es waren nicht nur diese Dinge -glückliche Erinnerungen-, die ihn in den Sinn kamen. Es waren auch all die Momente -Dialoge, die sie geführt hatten oder Handlungen, die von ihnen beiden ausgegangen waren- , in denen er es hätte sehen müssen, in denen er hätte handeln müssen.

,,Jim?"
,,Ja?"
,,Ich glaube ich möchte auf dem Land wohnen, wenn wir älter sind", mit dem Finger zeichnete er Kreise auf Jims nackte Brust.

,,Warum das denn?"
,,Wir beide könnten in einem großen Herrenhaus mit roten Klinkern, die Ruhe genießen. Ich finde, dass das der Inbegriff von in Würde altern wäre. Meinst du nicht?"

,,In Würde altern", Jim verzog sein Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen, ,,Ich denke nicht, dass man in Würde altern kann. Egal wo man lebt, älter werden ist immer ein Scheißprozess, Sebastian."

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Ein ohrenbetäubendes Hupen zeriss die Luft. Erschrocken riss er seinen Kopf vom Handybildschirm hoch. Er brauchte einige Sekunden um zu begreifen, was los war.
Jim stand mitten auf der Straße, ein Ausdruck der Verwunderung ins Gesicht gemeißelt. Wenige Zentimeter von ihm entfernt stand ein Auto, dessen Hupe noch immer lärmte.

,,Können Sie nicht aufpassen?", schrie der Fahrer aus dem offenen Fenster, nachdem die Hupe endlich verstummt war. Sebastian war inzwischen zu Jim getreten, um diesen sanft von der Straße zu holen.

,,Ich denke eher Sie sollten aufpassen", fauchte er zurück, ,,Immerhin hätten Sie fast meinen Freund überfahren."

,,Aber nur, weil der Idiot ohne zu gucken auf die Straße gerannt ist", der Fahrer schüttelte fassungslos den Kopf und zeigte ihnen einen Vogel, bevor er endlich weiterfuhr.

,,Ich lebe noch", flüsterte Jim, als der Wagen außer Sicht war. Es klang beinahe ein wenig enttäuscht, aber das war vermutlich nur der Schock.

÷

,,Äh, Sebastian?"
Er blickte von dem Buch auf und registrierte drei Dinge.
1. Jim war noch blasser als sonst.
2. Ihr Geschirhandtuch war unbeholfen um Jims linken Arm gewickelt.
Und war 3. in Blut getränkt.

Sherlock One ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt