Last Christmas (Mormor)

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Wann waren ihre Haare eigentlich grau geworden?
Wann hatte ihre Haut begonnen Falten zu werfen und wann genau waren ihre Augen müde und ihre Ohren wattig geworden?
Wann hatten ihre Hände begonnen zu zittern und wann waren ihre Muskeln so schrecklich steif geworden?

Sie hatten es nicht einmal mitbekommen. Von ein auf den anderen Tag schienen sie alt geworden zu sein. Alt, Jim hatte nie alt werden wollen. Er hatte wirklich geglaubt, dass er jung sterben würden. Wann war es eigentlich zu spät dafür gewesen?

Er wusste es nicht. So viele Jahre hatte er sich jung gefühlt und plötzlich... plötzlich war alles anders und im Spiegel blickte ihm ein alter Mann entgegen. Die dunklen Augen trüb, die helle Haut dünn und voller Altersflecken. Ungläubig hatte er sich angeschaut. Wann war er so alt geworden?

„Jim, kannst du mir mit dem Baum helfen?", Sebastians Stimme holte ihn aus den Gedanken. Der ehemalige Soldat mühte sich mit einem Weihnachtsbaum ab, der ihnen früher lächerlich klein und kahl vorgekommen wäre. Heute schien er riesig und schwer. Langsam erhob sich James aus dem Sessel, seine Knochen protestierten und es dauerte länger als früher. So viel länger.

Als der Weihnachtsbaum stand, fiel ihm auf, dass auch Sebastian keuchte. Die Luft rasselte in seinen müden Lungen, die vom Rauchen schwach und madig waren. Die blauen Augen waren wässerig und die einst starken Muskeln schlaff. Sie waren alt geworden. Schrecklich alt.

„Weißt du eigentlich, dass das unser vierzigstes gemeinsames Weihnachten ist?", fragte er Sebastian, der überrascht die Augenbrauen in die Höhe zog. Jim mochte die Zahlen noch immer. Sein Gehirn mochte eingestaubt sein, sich Zahlen zu merken, war schwerer geworden, aber es waren noch immer Zahlen. Die gleichen Zahlen wie viele Jahre zuvor. Die Mathematik ist ewig, hatte einer seiner Professoren mal gesagt. Es war mehr als sechzig Jahre her. Der Professor war schon lange tot. Menschen waren nicht ewig. Sie verglühten in Sekunden schnelle.

„So lange", flüsterte Sebastian, die Stimme rau und dunkel. Jim wurde bewusst, dass auch Sebastian fest damit gerechnet hatte, früh zu sterben. Menschen wie sie sollten nicht alt werden. Sie sollten sich kein Cottage auf dem Land kaufen und sie sollten nicht glücklich werden.

Sie, die sie so vielen Menschen ein langes Leben verwehrt hatten, durften doch nicht alt werden. Sie durften doch nicht glücklich sein, wenn sie so vielen ihres Glückes beraubt hatten. Monster bekamen kein Happy End. Das gab es nur für Helden.

Und dann hatten sie doch überlebt. Sie hatten Sherlock überlebt und John und Mycroft. Sie hatten all die Helden überlebt und waren aufs Land gezogen. Bis vor ein paar Jahren hatten Hühner ihren Garten bevölkert und erst dieses Jahr war der rote Kater verstorben, der eines Tages vor ihrer Tür gesessen hatte und sich nicht mehr vertreiben lassen wollte.
Gegen alle Regeln, gegen alle Gerechtigkeit hatten sie ihr Happy End bekommen.

„Erinnerst du dich noch an unser erstes Weihnachten?", sie saßen auf dem Sofa, Jim hatte ein Fotoalbum auf dem Schoß. Bilder aus vierzig Jahren.

„War das das Weihnachten, an dem du den Baum abgefackelt hast?"

„Ja." Ungesagt blieb, dass es auch das Weihnachten gewesen war, an dem sie eine Bombe im Kindergottesdienst hatten hochgehen lassen.

Ein weiteres Bild. Ihr viertes gemeinsames Weihnachtsfest. Sebastian blickte griesgrämig in die Kamera. Jim hatte das Bild gemacht, eigentlich um Sebastian zu ärgern. Als er sich später das Bild angesehen hatte, hatte es ihm so gut gefallen, dass er es nicht übers Herz gebracht hatte es zu löschen. An Sebastians 80. Geburtstag hatte er dann ein Fotoalbum ihrer gemeinsamen Jahre angefertigt und er hatte sich erneut in das Bild verliebt.

„Weißt du noch, warum ich da so grimmig gucke?" Es war ein Test, ob Jim sich noch erinnerte.

„Ich habe dir zum Frühstück ein Herz geschenkt."
„Ein echtes menschliches Herz. Drei Tage alt, halb verwesen, weil die Kühlkette mehrere Male unterbrochen wurde."

„Du hast dich schrecklich aufgeregt und die Wohnung gelüftet, bis Eiszapfen von der Decke gewachsen sind."
„Weil es gestunken hat. Ich habe den Geruch den ganzen Tag nicht aus der Nase bekommen und alles nur, weil du es lustig fandest. Ein Herz zu Weihnachten, wo durchgehend Last Christmas im Radio gedudelt wurde."

Sie kicherten und Jim stimmte mit brüchiger Stimme an.
„Last Christmas I gave you my heart..."

„Ich war wirklich sauer damals."
„Warum eigentlich? Doch nicht nur, weil ich dir ein Herz zu Weihnachten geschenkt habe."

„Nein", Sebastian überlegte einen Moment, „Ich war enttäuscht, weil ich im ersten Moment, gedacht habe, in der Box wäre ein Ring und du würdest mir einen Antrag machen. Stattdessen schenkst du mir ein verdammtes Herz."

Sie lachten wieder. Dann blätterten sie weiter. Ihre Hochzeit, ihre Flitterwochen. Eine neue Wohnung, ein neues Auto. Sie vor dem Eifelturm, dem Brandenburger Tor. Glücklich, ernst, albern.

Die letzten Bilder waren auf dem Land entstanden. Das Cottage, der Kater, Sebastian mit einem Huhn im Arm. Sie wirkten glücklich. Die Bilder strahlten Frieden und Zufriedenheit aus. Jene Zufriedenheit, die alte Leute umgibt und auf die man als junger Mensch immer ein bisschen eifersüchtig ist. Wann eigentlich waren sie zu diesen zufriedenen alten Leuten geworden? Wann hatten sie den Krieg der Stadt gegen die Ruhe auf dem Land getauscht? Und wie konnten ausgerechnet sie so glücklich in Frieden leben?

Jim erinnerte sich an früher, als ihnen nichts genug war. Er erinnerte sich an den Jim, der Sebastian ein halbverwestes Herz zu Weihnachten schenkte, weil es witzig war. An den Jim, der immer riskantere Aufträge annahm, der sich einen Namen machen wollte und sich zum König krönte, nur um Sherlock zu ärgern. Der Jim, der ewig leben und doch früh sterben wollte. Wann hatte er diesen Jim verloren?

Er konnte es nicht sagen. Er wusste ja nicht einmal, wann sie eigentlich so alt geworden waren.

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Hi,
ich habe es tatsächlich geschafft und einen Weihnachts- OS geschrieben.

Nachdem jetzt dank Studium lange nichts gekommen ist, hatte ich mal wieder Lust, was zu schreiben.
Irgenwie ist es mir anfangs ziemlich schwer gefallen die zwei zu schreiben (manchmal habe ich das Gefühl fast alles zu ihnen schon geschrieben zu haben).
Ursprünglich wollte ich einen Oneshot schreiben, indem Jim Sebastian ein Herz zu Weihnachten schenkt. Den Anfang hatte ich geschrieben, aber dann bin ich einfach nicht weitergekommen und hatte fast ein bisschen Angst, dass das mit dem Mormor OS zu Weihnachten nichts wird.

Und dann lag ich Abends im Bett und hatte plötzlich die Idee, die zwei alt werden zu lassen. Richtig alt, zusammen. Die Idee mit dem Herz fand ich trotzdem witzig und deshalb musste das Ganze zumindest als Erinnerung einbauen.

Ansonsten musste ich heute schon arbeiten (von 6.00 bis 10.00 Uhr) und bin deshalb seit 4.00 Uhr wach. Dafür bin ich erstaunlich wach.

Ein Vorteil hat der Lockdown: Ich werde heute nirgens mehr hin müssen.
Tatsächlich haben wir an Weihnachten immer meine Oma besucht (oder sie uns), weshalb ich überlege sie dieses Jahr auf dem Friedhof zu besuchen. Vielleicht nicht heute, aber die Tage mal. Ich bin nicht oft am Grab, öfter aber auf dem Friedhof (der ist echt schön und man sieht immer Eichhörnchen).

Wie feiert ihr normalerweise Weihnachten?
Und wie feiert ihr dieses Jahr?

Wir lesen uns im nächsten Oneshot.

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