Kapitel 57 - Er ist kein Held

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Kapitel 57 - Er ist kein Held

Tracy's POV: 
Es war kurz vor half Fünf in der Früh. In wenigen Stunden würde ich wohl aufstehen müssen und in den Unterricht gehen. Vor mir lag dieses Buch. Seit zwei Stunden. So sehr ich es auch wollte, ich konnte mich nicht überwinden es zu öffnen. Wohlmöglich lagen alle Antworten auf die ungeklärten Fragen in diesem pinken Büchlein. Faith war nicht wiedergekommen und ich vermutete, dass sie die Nacht hier nicht verbringen würde. Eigentlich hatte ich nicht vor so schnell Kiras Tagebuch zu lesen, aber nachdem Justin seiner Freundin dasselbe Kleid gab, wie er es bei Kira getan hatte, fühlte ich mich dazu gezwungen zu handeln. Schon lange hatte ich das Gefühl, dass bei Justin nicht alles in Ordnung war. Aber bei wem war es das schon? Würde man eine Umfrage machen, gäbe es keine Person, die ihr Leben als vollkommen bezeichnen würde. Die Probleme mochten bei jedem individuell anders schlimm sein, dennoch trug jeder sein Laster. Aber die Frage, die ich mir stellte, war, wie groß Justins Laster sein mochte und wer alles darunter leiden musste. Irgendwann müsste jeder, der ihm zu nahe kam, dafür bürden. Die Menschen mussten nur erkennen, dass nicht alles so war, wie es schien und wenn das herauskommen würde, wäre nicht nur Justins Welt zerstört, der selber von seinem Leid nichts zu ahnen schien, sondern jeder, der ihn liebte. Auch ich, denn ich liebte ihn noch immer als Freund. Das musste das Einzige sein, was nie fake war an der ganze Sache. Unsere Freundschaft, welche eh und je von Cody und Kira zerstört wurde. Wie tief musste Justin bloß in der Scheiße stecken, wenn er seine eigentlichen Probleme nicht bemerkte? Und wieso schienen alle Augen seiner Lieben geschlossen, sodass sie seine Konflikte nicht erkannten? Man sprach von der rosa- roten Brille... diese galt aber nur für Faith. Was war mit seiner Familie, seinen Freunden, Mr. Dale und all den anderen Menschen? Jedoch, nein. Ironischer Weise schien nur ich all das zu erkennen und ich war es ihm schuldig, ihn  zu heilen. Dafür musste ich nur selber herausfinden, was die Vergangenheit aus uns allen gemacht hatte, wie es zu allem kommen konnte und was Justins Problem war. Das waren eindeutig zu viele Aufgaben für einen einzigen, unbedeutenden Menschen wie mich, dennoch würde ich es versuchen. Nicht, um ein guter Mensch zu sein, sondern um mich egoistischer Weise von meinen eigenen Laster zu befreien.Befreien von der Schuld. Befreien von der Vergangenheit, für die jedoch alle Beteiligten sich befreien mussten. Also Justin, Cody und ich. Ich würde bei Justin anfangen und mit mir enden. Ich wollte ein Mal an mich selber denken und nicht im Namen Codys oder Kiras handeln. Dieses Mal wollte ich wirklich das egoistische Biest sein, was alle in mir sahen, obwohl ich immer nach der Nase anderer Menschen getanzt hatte.
Aber ich brachte es nicht über mein Herz. Jetzt war die beste Gelegenheit. Jetzt war ich alleine. Später würde Faith mir im Nacken sitzen, allerdings wusste sie von meinen Vermutungen nichts. Selbst Justin nicht. Natürlich konnte ich mir nicht sicher sein, dass ich die Antworten auf Justins Verhalten bekommen würde, aber ich würde Antworten auf Kira finden. Auf meine beste Freundin, die ich nie wirklich kannte. Wollte ich die Antworten? Teils ja, teils nein. Der Zwiespalt zerriss mich und meine Augen bohrten Löcher in das Büchlein. Mit zittrigen Fingern umgriff ich das Buch und hob es hoch, um es von allein Seiten zu betrachten. Es war stinknormal, nichts Besonderes. Mein Herz pochte und ich bekam Kopfweh. Vorsichtig hielt ich das Buch gegen das dumpfe Zimmerlicht, als ob es etwas Majestätisches wäre, was bestaunt werden müsste. Ich atmete nochmals ein, legte das Buch vor mich und griff nach dem Schloss. Es war heil. Also wusste ich nicht, ob Cody in dem Buch schon geschmökert hatte oder nicht. Einen Schlüssel hatte ich in seinem Schrank nicht gefunden. Wenn er schon dran gewesen war, hatte er entweder nichts Wichtiges gefunden oder alles für sich behalten. Nun war es an der Zeit mich selber vom Inhalt zu überzeugen. Es war moralisch falsch, sich an das Tagebuch einer Toten zu vergreifen, aber vielleicht könnte man ihren Tod dadurch aufklären. Falls nicht, dann konnte ich wenigstens den Überlebenden Frieden schenken. Mein Atem wollte sich nicht regulieren und unsicher in meinen Taten stand ich vom Bett auf und suchte eine meiner Haarklammern, die Faith anderweitig letztens nutzen wollte. Allein bei der Vorstellung graute es mir. Mühselig hifte ich mich wieder auf mein Bett und verbog mit all meiner Kraft die Klammer, um sie als Schlüssel benutzen zu können. Gespannt steckte ich das Ende in das Schloss und ein leichtes Klicken verriet mir, dass es funktionierte. Triumphierend grinste ich das Büchlein an. Es war nicht der Fakt, dieses materielle Ding überwunden zu haben, sondern der Fakt, dass Kira, die Geheimnisse so gut verbergen konnte, ihr Größtes nicht verstecken konnte. Dieses Mal hatte ich gewonnen, nicht sie. Verbittert nahm ich ihre Handschrift war. Sie war makellos schön, wie alles von ihr. "An den unerwünschten Leser, lies es und ich töte dich" stand auf der ersten Seite und ich musste lachen. "Dafür ist es reichlich spät, Süße. Oder willst du mich aus dem Reich der Toten heimsuchen?", es gab mir eine Genugtuung so viel Macht über die Person zu besitzen, die vorher bedingungslos über andere geherrscht hatte. Meine Sorgen waren verflogen. Vorsichtig strich ich über die Seite, ehe ich sie umblätterte und begann, die tiefsten Gedanken eines je verschlossenen Menschen zu lesen. Man wusste immer nur das Oberflächliche über Kira. Man wusste nur das, was sie einen wissen lassen wollte. Sie war gut darin, ihre Persönlichkeit zu verbergen und vorzugeben jemand anderes zu sein. Ich hatte es nur nie gemerkt, dass sie nicht die Kira war, die ich kannte. Sie musste sterben, damit ich dies herausfinden konnte.

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