Kapitel 20 - Nicht jede Geschichte existiert um erzählt zu werden

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Kapitel 20 - Nicht jede Geschichte existiert um erzählt zu werden
Deine Sicht: Es bedarf nicht immer viele Worte,um etwas zu erzählen. Das machte mir Justin mit seinen Worten bewusst. Gezeichnet vom Leben, das drückte alles aus. Meine Arme sprachen Bände,was er mir eindeutig demonstrieren wollte. Ich hätte wissen müssen,dass er es damit nicht beruhen lassen würde. Er hatte meine Handgelenke nicht ohne Grund wieder angesprochen. Ich wusste,dass es nur eine Frage der Zeit war,ehe er mich um meine Geschichte bat. Insgeheim hatte ich es von dem Moment an vermutet,als er meine zerschundenen Arme das erste Mal wahrgenommen hatte. Nachdem,was Tracy dann heute auch noch offenbart hatte,war mir auch bewusst geworden,dass ich ihm quasi eine Antwort schuldig war. Nicht nur,weil es selbst meine größten Feinde hier auf dieser Schule wussten,sondern auch,weil Vertrauen und Ehrlichkeit die Basis einer Freundschaft bildeten. Wenn ich eins nicht wollte,dann,dass meine gerade gewonnene Freundschaft wieder zerstört werden würde. Also wunderte es mich nicht,als er mich,nachdem er einen weiteren Kuss auf meine Arme platziert hatte,fragte:"Wieso hast du das getan?" Als er das sagte,ruinierte er diesen intimen Moment,den wir zuvor geteilt hatten. Nennt mich verrückt,aber die Art und Weise wie wir hier standen,ganz eng beieinander und er mir die Arme küsste,kam mir sehr intim vor. Ich hatte sowas zuvor noch nie erlebt und es war ein so wunderschönes Gefühl. Ich erinnerte mich daran,wie er erst heute morgen zu mir meinte,dass nichts so schlimm sein konnte,als dass man sich selber weh tun müsste. Aber das war es auch schon. Noch nie,seit er es wusste,gut es war auch erst seit heute,hatte er mich konkret gefragt,wieso ich mir Schmerzen zugefügt hatte. Jeder andere hätte mir diese Frage als erstes gestellt. Er nicht. Jetzt war es das erste Mal. Verlegen und in meinen Gedanken verloren entzog ich ihm meinen Arm und strich mir einige Strähnen auf Seite,um Zeit zu gewinnen. Sein fragender Blick musterte mich und durchlöcherte meine Augen. Der leise Regen war an seinem Dachfenster zu hören und als ich nach draußen starrte,erkannte ich nichts. Es war dunkel,als wäre die Welt untergegangen. Die Atmosphäre um mich herum zog mich in ihren Bann,ließ ein Schwindelgefühl in mir aufkommen und ich wusste,dass ich nicht bereit war,meine Geschichte zu erzählen. Also antwortete ich mit einer Gegenfrage:"Wieso fragst du das erst jetzt?" Seine Augenbrauen zogen sich zusammen,genauso wie das letzte Mal,als ich ihn mit einer Frage überrumpelte,die nur von mir kommen konnte. Seine Gestik wurde mir immer bekannter. "Du versuchst doch nur Zeit zu schinden.",durchschauend lächelte er spitzbübig. Mit langsamen Schritten lief ich an ihm vorbei und setzte mich auf sein Bett. Als ich an Justin vorbeilief,fühlte es sich so an,als würde ich automatisch,wie ein Magnet,zu ihm gezogen werden und ich gab mir große Mühe ihn nicht zu berühren,obwohl ich genau das wollte...Seine Haut an meiner spüren. Das wäre aber sicher komisch rübergekommen,ihn einfach zu berühren. Als ich saß,erklärte ich:"Naja,da gibt es viele Fragen,die ich noch habe. Aber im Gegensatz zu dir,bekomme ich kaum eine Frage beantwortet. Du im Gegensatz,weißt so viel über mich." Ich wusste,dass er wusste,dass ich Recht behielt. Ich erinnerte mich an eine Situation zurück...
Flashback:
"Als ich dich fragte, ob das deine Freunde sind und du mit sowas in der Art geantwortet hast, wolltest du mir da nur nicht sagen, dass sie dich genauso behandeln wie mich?", vorsichtig schaute ich mir die nächte Wunde an.  Niemals hätte ich gedacht,dass er ein Victim war. "Es ist noch zu früh, um sich solche Dinge anzuvertrauen.", er lächelte schwach. Was meinte er mit zu früh?
Flashback ende!

Verschmitzt über meine Erinnerung sprach ich weiter:"Du gibst mir lediglich geheimnissvolle Antworten." In Gedanken flüsterte ich: "Es ist noch zu früh,um sich solche Dinge anzuvertrauen." Justin lachte und folgte mir zum Bett. Langsam ließ er sich neben mir nieder und drehte sein Gesicht in meine Richtung. "Du hast ein ganz schön gutes Gedächtniss.",stellte er fest. "Naja.",ich zuckte mit den Achseln:"Dieser Satz hatte was. Ich kann es nicht genau sagen." Er grübelte einige Sekunden,er schien abwesend zu sein. Schließlich straffte er sich und legte eine Hand an sein Kinn,als ob er nachdenken würde. "Also gut.",hauchte er und ließ seine Hand vom Kinn gleiten, ehe die Hand schlaff auf seinen Schoß fiel:"Machen wir einen Deal." Sein Blick ließ auf nichts Gutes schließen. "Du erzählst mir deine Geschichte und danach bin ich dran. Beteuernd nickte er mir zu:"Wirklich,alles." Argwöhnisch betrachtete ich ihn von allen Seiten. Meine Angst war groß und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. "So sehr ich auch will,ich kann nicht.",meine Stimme war kratzig. Justin griff nach meiner Hand,nahm sie zu sich und legte beide seine Hände darauf. "Vertraust du mir nicht?" Sofort schüttelte ich den Kopf. Ich vertraute niemanden,außer ihm. "Das ist es nicht." "Was ist es dann?" Ich verspannte mich,spürte,wie der Kloß meinen Hals ausfüllte. Allein der Gedanke an all das was passiert war,ließ die Tränen in mir aufsteigen:"Ich will nicht weinen." Sein Blick wurde weicher. Mitleidig drückte er meine Hand und die Wärme seines Körpers übertrug sich auf mich: "Es ist okay zu weinen. Du brauchst dich nicht schämen,Faith. Nicht bei mir." Ich schaute zur Seite. "Wieso interessiert dich das eigentlich?"Er schwieg und presste die Lippen aufeinander. Das hatte er vor Kurzem auch mal gemacht. Auch diese Gestik konnte ich deuten: Er kämpfte gegen sich selber. "Weil du mir wichtig bist.",es hörte sich wie ein Geständnis an. Seine Worte hatten eine ungeheure Wucht auf mich und ich spürte meinen Bauch kribbeln.Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und biss mir auf die Lippe. "Es war eigentlich schon immer kompliziert.",begann ich schließlich. Justins wachsamer Blick ruhte auf meinen Lippen,als könnte er Lippenlesen. Seine Augen musterten meine Lippen angestrengt und seine Miene war ernst. Er hörte mir zu,er war für mich da. "Meine Eltern waren beide ziemlich jung,als sie sich kennenlernen.Meine Mutter war sechzehn und mein Vater zwanzig." Er unterbrach mich:"Meine auch."Mit einem Nicken gab ich ihm zu verstehen,dass ich seine Aussage aufgenommen hatte. "Sie gingen gerne feiern,tranken,rauchten und hatten Spaß. Ich kann es ihnen nicht verübeln,sie waren ja auch jung." Ich lachte verbittert:"Als meine Mutter dann siebzehn war, starben meine Großeltern bei einem Autounfall.Zur selben Zeit erfuhr sie,dass sie schwanger mit mir war und ihr wuchs alles über den Kopf. In ihrer Wut über die Schwangerschaft und dir Trauer über ihren Verlust brach sie die Schule ab und zog mit meinem Vater zusammen. Sie wollten mich abtreiben. Ein Kind war ihnen für ihre Zukunft im weg und sie hatten auch gar kein Geld. Während meine Mutter versuchte einen Haushalt zu führen, ging mein Vater zur Lehre. Er versuchte sich als Automechaniker. Neun Monate später,als meine Mum achtzehn war, kam ich dann zur Welt.",ich machte eine Pause. Wie perfekt ihr Leben hätte sein können ohne mich. "Meine Mutter war auch achtzehn.",bemerkte Justin sachte. Er strich mir über meine zitternde Hand. "Meine Mutter war überfordert und kam mit der ganzen Situation nicht zurecht. Wenn ich weinte,hielt sie mir ein Kissen auf das Gesicht,bis ich ruhe gab.",wisperte ich und bemerkte,wie mir das Atmen immer schwerer fiel:" Sie begann zu trinken. Am Abend mal eine Flasche Bier,dann wurden es zwei,drei,vier,ein Kasten und dann hatte sie sich irgendwann gar nicht mehr unter Kontrolle. Mein Vater schmiss seine Lehre,begann ebenfalls zu saufen wie ein Loch.",mir stiegen die Tränen ins Gesicht. "Sie wurden abhängig.",schlussfolgerte Justin und ich nickte schlaff. Mit all meiner Kraft versuchte ich mich zusammenzureißen. Ich wollte nicht weinen. "Meine Mutter war auch mal abhängig.",Justins Stimme war ganz leise:"aber wärend meiner Schwangerschaft hat sie aufgehört." Unsere Geschichten schienen ganz viele Parallelen aufzuweisen und doch war es ganz unterschiedlich. "Meine nicht. Sie ertranken in ihrem Selbstmitleid,sie hassten mich. Sie warfen mir immer wieder an den Kopf,dass sie ihr weniges Harz4 Geld für mich ausgeben mussten,sie verabscheuten mich. Sie haben mir an den Kopf geworfen,dass ich Schuld an ihrem Unglück sei. Sie haben mich so gehasst,Justin. Sie haben sich gewünscht,ich wäre nie auf die Welt gekommen und sie hassen mich,weil ich ihr Leben zerstört habe.",meine Stimme überschlug sie und ich versuchte all mein Leid in Worte zu fassen. Noch nie hatte ich so offen darüber geredet:"Ich habe keine Familie. Deine Mutter hat dir zu Liebe aufgehört. Meine gibt mir die Schuld für alles. Sie haben mich immer angebrüllt,sie haben mich geschlagen,sie haben mir meine Klamotten weggenommen,um ihren Alkohohl zu finanzieren und sie haben mit leeren Flaschen nach mir geworfen,wenn nichts mehr da war. Sie hätten so glücklich leben können. Sie hätten studieren können,in dem Haus meiner Großeltern glücklich werden können und verdammt,sie hätten nicht so enden müssen. Sie haben recht,Justin. Ich war ihr größter Fehler und ich bin schuld an allem." Die Worte meiner Mutter hallten in meinem Ohr:

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