Kapitel 4

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Das Klingeln meines Weckers riss mich aus dem Schlaf. Leise stöhnte ich auf, schaltete den Wecker aus und drehte mich auf die andere Seite, um noch kurz weiterzuschlafen.
Ich träumte davon, wie Logan mich geweckt hatte, als sei nichts passiert. Wir saßen zusammen in seiner Küche, haben Pfannkuchen gegessen und er erzählte mir von seinem letzten Semester. Ich habe mich nicht getraut, ihn auf das was geschehen ist anzusprechen, denn meine Angst war einfach zu groß. Die Angst, dass er es wieder tat. Dass er sich wieder in das Monster verwandelte, das er nicht kontrollieren konnte.
Vielleicht wollte ich auch einfach den Moment mit ihm genießen, in dem er wieder fast der alte Logan war. Ich wollte so sehr, dass der alte Logan zurückkommt, dass alles wieder so werden würde, wie es mal war. Aber das würde es nicht. Es würde nie wieder so sein, wie es mal war. Und obwohl ich genau wusste, dass es dämlich von mir war so zu tun, als wäre alles in Ordnung, tat ich genau das.
Ich verdrängte was er getan hatte.

Entsetzt riss ich meine Augen auf und traute mich gar nicht auf die Uhr zu schauen, denn ich wusste, dass ich viel zu spät war - und das an meinem ersten Tag. Keine Sekunde später stand ich bereits vor meinem Kleiderschrank und sah in den Spiegel.
Bis auf einen großen, aber nur leicht bläulichen, Fleck an einer meiner Wangen, hatten diese wieder eine normale Farbe angenommen. Es dürfte also kein Problem darstellen, die letzten Reste des Geschehnisses mittels Foundation verschwinden zu lassen. Gegen das aufgeplatzte Kinn konnte ich zwar nichts tun, aber diese Verletzung hätte ich mir auch genauso gut durch ganz andere Dinge zuziehen können, als durch einen Faustschlag.

In Windeseile schminkte ich mich und betrachtete ziemlich zufrieden das Ergebnis. Niemand würde irgendwelche Schlüsse ziehen können, da mein Gesicht - bis auf die Wunde am Kinn - aussah wie immer. Also brauchte ich mir gar keine Gedanken darum zu machen, dass irgendjemand unangenehme Fragen stellen würde.

***

Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich schnaufend im Eingangsbereich der Universität stand, was jedoch eher daran lag, dass ich fast den gesamten Weg gerannt bin, als an der Länge des Weges selbst. Während ich versuchte meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen, indem ich langsam ein- und ausatmete, fiel mir jedoch ein weiteres Problem auf, dass ich lösen musste.
Ich wusste weder wo meine Vorlesung stattfand, noch was ich überhaupt für eine Vorlesung hatte.
Als mir dann auch noch bewusst wurde, dass ich in der Eile meine Tasche zu Hause gelassen hatte, fluchte ich leise vor mich hin.

»Hey, alles klar bei dir? Du wirkst etwas... verloren.«
Die Stimme gehörte einem blonden Mädchen mit unzähligen Sommersprossen im Gesicht.
»Ist das so offensichtlich?«
»Naja, du bist ziemlich außer Atem und fluchst in der Gegend rum. Also ja, ich würde sagen, dass ist ziemlich offensichtlich.«
Verlegen lächelte ich sie an, während sie immer näher auf mich zukam. Ich konnte ihr ansehen, dass sie mit Mühe versuchte ein Lachen zu unterdrücken.
»Ersti, oder? Ok, blöde Frage, offensichtlich bist du das. Weißt du, das ist mir im ersten Semester auch passiert, ich kam hier an und hatte keinen Plan was ich tun musste. Was studierst du denn?«

Nachdem ich ihr geantwortet hatte, konnte sie mir glücklicherweise sagen, wo ich hin musste. Sie studierte ebenfalls Publizistik, war jedoch schon zwei Semester weiter als ich.
Nervös stand ich nun schon seit einigen Minuten vor der Hörsaaltür und traute mich nicht hineinzugehen. Natürlich lag es weniger an der Vorlesung selbst, als daran, dass es mir total unangenehm war, irgendwo zu spät aufzukreuzen. Bevor ich mich dazu entscheiden konnte, einfach wieder zu verschwinden und es morgen noch einmal zu versuchen, öffnete ich schnell die Tür und trat in den Hörsaal.
Dummerweise war die Tür auch noch ganz vorne im Hörsaal, sodass mich alle anstarrten. Ich sah kurz zu dem Professor, der mir einen mahnenden Blick zuwarf. Leise entschuldigte ich mich und lief zu den Sitzen.

Da sah ich ihn - und seine rehbraunen Augen blickten direkt in meine. Ich meinte sogar zu sehen, dass seine Mundwinkel leicht nach oben zuckten, als würde er sich freuen mich wieder zu sehen. Aber das war höchstwahrscheinlich Einbildung. Wir hatten uns immerhin nur einmal kurz gesehen, warum sollte er mir also zulächeln?
Ich entschied mich dazu, mich nicht in seine Nähe zu setzen, so dass ich letztendlich in der dritten Reihe landete. Die ganze restliche Vorlesung versuchte ich mich auf die Worte des Professors zu konzentrieren, aber es gelang mir einfach nicht. All meine Gedanken waren bei ihm.

Die Vorlesung verging schneller als erwartet, was wahrscheinlich aber zum Großteil daran lag, dass ich weit mehr als nur ein wenig zu spät war. Da ich nichts dabei hatte, was ich hätte einpacken müssen, stand ich direkt auf und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Ich kam jedoch nicht weit, als ich eine warme Hand an meiner Schulter spürte.

Langsam drehte ich mich um und da war es wieder, dieses unwiderstehliche Lächeln. Bevor ich mich fragen konnte, was er von mir wollen könnte, verrutschte sein Lächeln etwas, als er mein Gesicht genauer musterte. Ich versuchte mir jedoch nicht anmerken zu lassen, dass sein forschender Blick mich verunsicherte und sah ihn fragend an.
»Alles klar bei dir?«, fragte er schließlich und tat somit so, als wäre diese komische Stille niemals da gewesen.

»Ähm... ja?«
Meine Antwort klang viel schnippischer, als ich es geplant hatte und spürte sofort den Hauch eines schlechten Gewissens. Ich hatte kein Recht, ihn so anzuzicken. Also versuchte ich es erneut, indem ich ein breites Lächeln aufsetzte.
»Ich meine: Ja! Mir geht's super, wie geht's dir?«
Er schien zwar irgendwie irritiert zu sein, aber trotzdem antwortete er, wenn auch etwas zögerlich.
»Klar, mir geht's auch gut.« Er streckte mir seine Hand entgegen.
»Ich bin übrigens Jared.«
Jared. Jared. Schöner Name. Passte zu ihm.
»Moment mal, das war deine Party am Samstag?«
Er antwortete nicht, sondern blickte erwartungsvoll auf meine Hand, weswegen ich ebenfalls meinen Blick senkte und leicht errötete. Ich Vollidiot war irgendwie so durch den Wind, dass ich ihm nicht einmal die Hand gegeben habe. Sofort holte ich es nach, woraufhin er kurz auflachen musste.

»Ich würde echt gerne wissen, was in deinem Kopf vorgeht.«
»Glaub mir, das willst du nicht.«
Er schmunzelte leicht und fast hätte ich ebenfalls gegrinst, wenn ich in diesem Moment nicht diese Stimme gehört hätte, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Avery, wo bleibst du denn? Wir waren doch zum Essen in der Mensa verabredet.«
Ich wollte mich gerade zu ihm umdrehen, als ich seinen Arm an meiner Taille spürte und er mich an sich zog. Erschrocken zuckte ich zusammen, während ich immer noch in Jareds Augen blickte, die mich aufmerksam musterten.
»Logan? Das ist übrigens Jared.«
Jareds Mund öffnete sich einen Spalt breit, bevor er ihn einen Sekundenbruchteil später wieder schloss und verwirrt seine Augenbrauen zusammen zog.
»Logan?«, flüsterte er so leise, dass ich mich fragte, ob ich es mir nur einbildete. Sicher war jedenfalls, dass er es eher zu sich selbst sagte und wahrscheinlich gar nicht wollte, dass ihn jemand hörte.

»Wir kennen uns bereits. Also, wenn du uns entschuldigen würdest, Jared. Ich werde mit meiner Freundin essen gehen.«
Die Art, wie er Jareds Namen betonte, gefiel mir ganz und gar nicht. Als würde es ihm Schmerzen bereiten seinen Namen auszusprechen.
Als Unterstützung seiner Worte drückte er mir noch einen Kuss auf die Stirn. Der Kuss war ohne jegliche Gefühle, er war einfach dazu da zu zeigen, dass ich zu ihm gehörte.

Logan setzte sich in Bewegung und ich hob noch schnell meine Hand, um Jared zum Abschied zuzuwinken, der sich genau in diesem Moment wieder aus seiner Starre löste und uns nachlief.
»Wisst ihr was? Ich hab auch extremen Hunger. Ich werde euch beim Essen Gesellschaft leisten.«
Im ersten Moment spürte ich eine unglaubliche Erleichterung, dass ich nicht allein mit Logan sein müsste. Doch als ich in Logans funkelnde Augen sah, schwand diese wieder so schnell wie sie gekommen war. Er schien innerlich zu kochen, dass Jared sich uns angeschlossen hatte, sagte jedoch nichts dazu, sondern zog mich nur noch etwas enger an sich heran.

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