Kapitel 14

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Ich verharrte noch eine Weile auf dem Boden, während Logan mit seiner Hand meinen Rücken auf- und abfuhr. Was sollte ich jetzt tun? Ich wusste einfach nicht, wie es mit uns beiden weitergehen sollte. 
Logan massierte sanft meinen Nacken und zog mich ein Stück zu sich. Auch wenn sich alles in mir sträubte ihm jetzt so nah zu sein, ich ließ es dennoch zu, da ich einfach nicht die Kraft hatte, mich ihm zu widersetzen.
Ich spürte, dass er es genoss. Seinen Sieg. Er hatte mich tatsächlich dazu gebracht, mich bei ihm zu entschuldigen. Dafür, dass er mich geschlagen hat. Dass er mich wie Dreck behandelte.

Da klingelte es.
"Shit.", fluchte ich leise und sprang ruckartig auf.
Schnell zog ich mir mein Shirt wieder an und vergewisserte mich mit einem Blick in den Spiegel, dass ich nicht allzu verheult aussah. Natürlich war das nicht der Fall, aber glücklicherweise lenkte die extreme Röte in meinem Gesicht - zumindest, wenn man nicht allzu genau hinsah - von den blauen Flecken ab.
Gezwungenermaßen setzte ich mein schönstes, künstliches Lächeln auf und öffnete die Tür.

"Avy!"
Zwei schlanke Arme legten sich um meine Taille. Als ich realisierte, wer da vor mir stand, erwiderte ich die Umarmung und drückte ihn so fest an mich, dass er kurz aufkeuchte.
"Sam, was machst du denn hier?"

Ich war so glücklich meinen kleinen Bruder wieder zu sehen. Seit ich vor einigen Wochen für das Studium von zu Hause weggezogen war, hatte ich ihn nicht mehr in die Arme schließen können. Und jetzt war er hier.

"Ich hatte dir geschrieben, dass ich Sam für ein paar Tage zu dir bringe, da dein Dad und ich kurzfristig eine wichtige Tagung haben. Hast du meine Nachrichten nicht gelesen?"
Erst jetzt realisierte ich, dass hinter meinem kleinen Bruder noch jemand stand. Meine Mum. Als ich ihr in die Augen blickte, rümpfte sie kurz die Nase, setzte dann aber sofort wieder ihr übliches Pokerface auf.

Ich würde nicht behaupten, dass ich ein schlechtes Verhältnis zu meinen Eltern hatte, aber schon als ich noch ein kleines Kind war, spürte ich immer diese Distanz, die zwischen mir und meinen Eltern war. Durch ihre Jobs - sie waren beide in einem großen Wirtschaftskonzern beschäftigt - waren sie oft unterwegs und wenn sie dann doch mal zu Hause waren, hatten sie immer Arbeit mitgebracht. Das führte dann dazu, dass wir auch nach ihrer Arbeit nichts von ihnen hatten und ich, seit ich 14 Jahre alt war, für Sam gesorgt hatte. 
Ich hoffte immer noch, dass es nach meinem Auszug anders werden würde und sie sich mehr um Sam kümmern würden. Er war immerhin erst acht.
Aber wahrscheinlich war das nur Wunschdenken.

"Ä-ähm... nein, Mum. Mein Handy ist kaputt gegangen, ich habe es aus Versehen fallen gelassen und jetzt geht es nicht mehr an. Ich muss mir die Tage unbedingt ein neues besorgen."

"Naja, wie auch immer. Wir sind übermorgen Abend wieder da und werden Sam abholen kommen." 
Obwohl ihre Stimme hart klang, zog sie mich noch in ihre Arme und bedankte sich bei mir, bevor sie ging.

Seufzend schloss ich die Tür. Natürlich freute ich mich unendlich darüber, dass Sam hier war und wir Zeit miteinander verbringen konnten, aber er war zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt gekommen.

"Logi!!"
Erschrocken zuckte ich zusammen und sah noch, wie Sam in der Küche verschwand, in der sich anscheinend Logan befand.
"Na, junger Mann? Wow, bist du groß geworden, bald bist du größer als ich, Sam." 

Als ich die Küche betrat, wirbelte Logan Sam gerade durch die Luft und Sam quiekte vor Freude laut. Es tat mir irgendwie weh, die Beiden so zu sehen. Logan war so unbeschwert, als wäre nichts geschehen, aber ich wusste selbst, dass ich genau das selbe tun musste.
Ich wollte nicht, dass Sam irgendetwas von dem, was zwischen Logan und mir war, mitbekam. Also blieb mir nichts Anderes übrig, als ebenfalls auf heile Welt zu machen.

Sobald Logan Sam wieder runtergelassen hatte, rannte er glücklich zu mir, aber seine Mimik wechselte binnen Sekunden.
"Hast du geweint, Avy?", fragte er traurig.

Mist.
"W-was? Nein, n-natürlich nicht. Also ja, aber nur, weil ich eben Zwiebeln geschnitten habe. Da muss man doch immer weinen."
Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, lächelte ich ihn - wahrscheinlich viel zu übertrieben - an.

"Aber hier sind doch gar keine Zwiebeln?"
Doppelter Mist. 

"Da hast du allerdings Recht, Sam. Eigentlich wollte ich gerade als du geklingelt hast, anfangen Zwiebeln schneiden und ich musste schon bei dem Gedanken daran weinen."

"Achso." 
Er zuckte mit den Schultern und lief an mir vorbei, um sich an den Tisch zu setzen.
"Ich hab' Hunger, Avy. Machst du mir was zu Essen?"
Zum ersten Mal war ich froh, dass Sam sich nie lange auf eine Sache konzentrieren konnte und seine Gedanken ständig umherschwirrten.

Gerade als ich zum Kühlschrank gehen wollte, schlang Logan seinen Arm um meine Taille, zog mich zu sich und gab mir einen kurzen Kuss auf den Mund - den Sam mit einem lauten 'Bääh' kommentierte.

"Ich mache das schon. Du kannst dich ja schon einmal umziehen gehen und dich etwas frisch machen." 

Wortlos nickte ich und ging tranceartig ins Schlafzimmer. Dort schloss ich leise die Tür und lehnte mich erschöpft dagegen.
Mein Blick fiel auf mein Handy, das in mehrere Einzelteile zersprungen und auf dem Boden verteilt war. Also musste ich mir wirklich ein neues kaufen.

Ich ging zu meinem Kleiderschrank und zog die ersten beiden Sachen raus, die in mein Blickfeld gerieten. Da ich heute nach der ganzen Aufregung sowieso nicht in die Uni gehen würde, war es mir schließlich auch egal, was ich anhatte, solange es bequem war.
Anschließend ging ich ins Bad und wusch mein Gesicht, um auch die letzten Tränenspuren wegzuwischen.

Aus der Küche hörte ich lautes Lachen. Obwohl sich die beiden schon lange nicht mehr gesehen hatten, verstanden sie sich blendend. Und das war mir gerade gar nicht Recht.
Mit wenigen Schritten war ich in der Küche und setzte mich neben Sam, der gerade ein Brot in sich hineinstopfte. 

"Willst du was unternehmen, Sam? Ich habe heute zufälligerweise frei. Du darfst entscheiden, wohin wir gehen."
Sofort schlich sich ein breites Lächeln auf Sams Gesicht, das auch mich lächeln ließ. 

"Oh ja, gehen wir in den Zoo? Und Eis essen! Und ins Kino! Und.."

"Ich glaube der Tag ist nicht lang genug, um das alles zu machen. Aber wir schauen mal, was wir davon machen können.", lachte ich und wuschelte mit meiner Hand durch seine Haare.

Ich wusste, dass er das überhaupt nicht leiden konnte, aber tat es trotzdem immer wieder; er war einfach zu süß. Man konnte ihm genau ansehen, dass ihm das peinlich war, was dazu führte, dass ich noch breiter grinsen musste. 

"Und Logi soll mitkommen! Du kommst doch mit, oder Logi?"

Und mal wieder schaffte es ein einzelner Satz, dass mein Lächeln erstarb.



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