Kapitel 24

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Es gefiel mir überhaupt nicht, wie Jared mich ansah. Ich wollte kein Mitleid haben, von niemandem. Denn das sorgte dafür, dass ich wieder in die Rolle gedrängt wurde, in die ich niemals schlüpfen wollte: die zerbrechliche, naive Avery.

Aber genau dafür hielten mich diejenigen, die mich kannten und je mehr sie daran glaubten, dass ich genau so war, desto mehr wurde ich auch so. Ich wollte es einfach jedem Recht machen - in jeder Hinsicht.

"Ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Tut fast gar nicht weh.", sagte ich mit einem Grinsen im Gesicht, um meine Verbrühung zu verharmlosen. Wenn ich mir glaubte, musste es schließlich auch Jared tun, oder?

Er sah immer noch misstrauisch abwechselnd auf meine Beine und in meine Augen.

"Na gut, du solltest so aber trotzdem nicht alleine Heim laufen.", seufzte er schließlich.

"Moment mal! Hier geht niemand irgendwo hin! Ich habe immerhin extra Gebäck geholt, das werden wir jetzt auch essen.", warf Sara bestimmend ein.
"Und am besten übernachtest du dann auch gleich hier!"

Als Antwort zuckte ich nur mit den Schultern. Logan würde eh erst morgen wieder kommen, als konnte ich auch gut hier...- der Gedanke an ihn ließ mich erschaudern.
Bei all dem Theater um meine Beine hatte ich vollkommen verdrängt, wie es dazu gekommen ist.
Ich musste mich entscheiden: Sollte ich die Nachricht von der unbekannten Nummer einfach ignorieren oder etwas tun?
Aber was sollte ich denn genau machen, wenn ich entschied, der Nachricht vertrauen zu schenken? Ich wusste ja nicht einmal, weshalb ich mich von ihm fernhalten sollte. Das war bestimmt nur ein übler Streich.
Mir würde ja auch bestimmt auffallen, wenn Logan gefährlich werden würde.

"Hallo? Erde an Avery?"

Sara fuchtelte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht rum und zog mit der anderen an meinem Oberarm, um mich aus dem Bad zu ziehen.

"Ähm, ja sorry."
Ich schüttelte meinen Kopf, um mich von meinen endlosen Gedanken zu befreien und folgte Sara, die mich mittlerweile losgelassen hatte, in die Küche.

Dort holte Jared bereits Teller aus dem Schrank, um sie auf den Tisch zu stellen, als ich sah, dass der Bildschirm meines Handys aufleuchtete, das immer noch auf der Theke neben ihm lag.
Aus Angst, es könnte wieder eine Nachricht von der unbekannten Nummer sein und Jared würde einen Blick darauf erhaschen, war ich in wenigen Schritten bei meinem Handy angelangt und riss es an mich.
Dann drehte ich mich mit dem Rücken zu den Anderen und entsperrte den Bildschirm.
Erleichtert atmete ich auf. Es war eine weitere Nachricht von Logan.

"Avery? Wo bist du? Wieso antwortest du nicht?"

Genervt rollte ich mit den Augen. Die erste Nachricht hatte er mir vor höchstens einer halben Stunde geschrieben. Wie konnte er nur so ungeduldig sein?
Damit er nicht noch nervöser wurde, tippte ich schnell eine Antwort.

"Bin bei Sara. Klar sehen wir uns morgen, freue mich schon."

Wenige Sekunden später hatte er schon zurück geschrieben.

"Super, ich erwarte dich um 21 Uhr bei mir zu Hause. Ich werde uns etwas Schönes kochen."

Mit gemischten Gefühlen steckte ich mein Handy in meine Hosentasche. Irgendwie ließ mich diese Warnung einfach nicht los und auch, wenn ich mich freute, Zeit mit Logan zu verbringen, hatte ich trotzdem bedenken.
Ich entschied mich dazu, mir in den nächsten Stunden mal keine Gedanken über alles und jeden zu machen und einfach den Moment zu genießen.

"Alles klar? Du schaust so besorgt.", fragte Sara plötzlich.

"Ja, alles super. Das war nur Logan. Er ist morgen wieder zurück und will für mich kochen."

"Das ist ja so süß! Jared, Schatz? Warum kochst du nie für mich?"

Als Antwort erhielt sie lediglich ein hilfloses Schulterzucken seinerseits.

"Naja, du wirst ja noch lange genug die Gelegenheit dazu haben. Apropos Logan, weißt du eigentlich mittlerweile wohin er verschwunden ist?"

Ich hatte immer noch keine blassen Schimmer, aber er würde es mir schon erzählen.

"Er musste dringend nach Hause fahren. Irgendwas mit der Familie."

Tatsächlich hatte ich in den zwei Jahren nicht einmal seine Familie gesehen. Er hat mir mal erzählt, dass seine Mutter gestorben ist, als er noch ganz klein war. Seinen Vater hatte er nie erwähnt; genauso wenig wie mögliche Geschwister.
Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich eigentlich überhaupt nichts von ihm wusste. Er hingegen kannte jedes noch so unwichtige Detail über mich.

"Oh, hoffentlich nichts Ernstes."

"Wird schon alles in Ordnung sein."

"Wenn du meinst.", entgegnete Sara schulterzuckend. "Wer hat Lust auf Essen?"

Während sie diese Worte sagte, fingen ihre Augen an zu leuchten.

***

Schon seit Stunden wälzte ich mich auf Saras Couch umher und versuchte einzuschlafen. Aber immer, wenn ich das Gefühl hatte, endlich kurz davor zu sein, musste ich an die Nachricht denken.
Ich versuchte zwar, sie einfach zu ignorieren, wie ich es beschlossen hatte - ich würde doch bestimmt merken, wenn irgendeine Gefahr von Logan ausgehen würde - aber es gelang mir offensichtlich nicht so gut.

Halte dich von Logan fern.

Automatisch griff ich nach meinem Handy, das neben mir auf dem Boden lag und las die Nachricht noch einige Male durch, in der Hoffnung irgendeinen Hinweis auf den Absender oder dessen Absicht zu finden. Aber natürlich fand ich nichts.
Es waren immer noch dieselben fünf kleinen Worte, wie auch schon vor einigen Stunden.

Ich schaltete den Bildschirm ab und ging ins Bad. Wenn ich hier schon wach war, konnte ich ja auch etwas Sinnvolles tun.
Genau da, wo ich sie stehen gelassen hatte, stand die Brandcreme.
Ich nahm sie und setzte mich auf den Badewannenrand, wobei ich aus Versehen einige Shampooflaschen umstieß, die mit einem lautem Scheppern in die Wanne fielen.

Erschrocken wandte ich den Kopf zur Tür, um zu sehen, ob ich jemanden geweckt hatte, aber nichts regte sich in der Wohnung.

Leise stellte ich die Flaschen wieder auf den Wannenrand und öffnete die Tube mit der Brandcreme.

"Avery? Warum bist du denn noch auf?"

Jared stand verschlafen in der Tür und gähnte einmal herzlich, bevor er mir den Blick zuwandte. Dann wurde sein Blick ganz sanft.

"Oh. Warte, ich helfe dir."

Bevor ich ihm widersprechen konnte, hatte er mir die Tube schon aus der Hand genommen.

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