Kapitel 46

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2 Wochen später

Ich bin nicht gegangen, so wie es ursprünglich geplant war. Ich wollte von hier verschwinden und wenn möglich, nie wieder Finn oder einem seiner Freunde begegnen.
Aber stattdessen saß ich nun hier, inmitten all dieser Leute, die ich vor nicht allzu langer Zeit verachtet habe. Für das, was sie aus ihrem Leben machten - oder eben nicht machten. Keiner von ihnen hatte Pläne für die Zukunft. Sie lebten alle einfach in den Tag hinein und sahen, was passierte.
Nach dem Unfall war ich einige Tage noch nicht fit genug, um zu verschwinden und als ich es dann war, habe ich gesehen, dass es genau das war, was ich mir auch für mich selbst gewünscht hatte. Genau das war die Veränderung, nach der ich gestrebt hatte: Einfach mal unvorhersehbar sein, loslassen und zur Abwechselung einmal keinen Plan haben, was ich am nächsten Tag tun würde.

Jemand stupste mich leicht an, sodass ich meinen Kopf ein Stück drehte, um in Coles grinsendes Gesicht blickte. Er reichte mir den Joint, den er in der Hand hielt und ich zog einmal genüsslich daran. Dann schloss ich meine Augen, um die berauschende Wirkung noch etwas intensiver wahrzunehmen. 
Die Anderen haben gesagt, es sei ja nichts Schlimmes hin und wieder nen Joint zu rauchen oder ein paar Pillen zu schlucken. Sie sagten, es sei wie mit Alkohol: Ich sollte einfach meine Grenzen kennen. Und ich glaubte ihnen.
Ich weiß nicht, ob es so war, weil ich es wirklich tat, oder ihnen einfach glauben wollte. Denn dieser Moment, in dem man die Kontrolle verlor und sich fühlte, als sei man in einer anderen, besseren Welt, war einfach unglaublich. Natürlich gab es aber auch hier Schattenseiten, wie bei fast allem. Die Drogen machten aber nicht immer alles rosig: Einige Male ließen sie mich all die Sachen fühlen, die ich so dringend verdrängen wollte: Das schlechte Gewissen gegenüber meiner Familie, vor allem gegenüber Sam, der sich bestimmt Sorgen machen würde, wenn meine Eltern ihm erzählen würden, dass sie mich nicht erreichen konnte, falls sie das überhaupt schon versucht hatten. All die Male, als Logan mich geschlagen hatte und all die Panik und Angst die ich in den Momenten erlebt hatte - und zwar in tausendfacher Intensität. Das Gefühl, verraten worden und allein zu sein, dass ich durch Sara in die verschiedensten Situationen projizierte.
Und zuletzt natürlich die Angst, dass Jared mich dafür hasste, dass ich einfach verschwunden bin, ohne ihm was zu sagen oder ihm eine Möglichkeit offen zu lassen, mich irgendwie erreichen zu können. Die Angst, dass er die Person verachten würde, zu der ich hier langsam aber sicher wurde. Dass er mir nicht mehr in die Augen sehen können würde, ohne enttäuscht zu sein, wenn ich zurückkehre.
Die Angst, meine Chance verpasst zu haben, dass endlich alles gut wird, weil ich feige war, um ihm einfach meine Gefühle zu gestehen und mir von ihm helfen zu lassen. Ich war selbst Schuld daran, dass ich dabei war, alles zu verlieren, was mir jemals wirklich wichtig war.
Und genau deswegen bin ich noch hier: Um meine Gedanken abzuschalten, um meine Sorgen in Luft aufzulösen.

Ich zog noch einmal an dem Joint, bevor ich ihn weitergab. Diesmal blies ich den Rauch jedoch nicht sofort heraus, sondern behielt ihn für einige Sekunden in meiner Lunge. Dann legte ich mich auf den Rücken und starrte die Decke an. Ich wusste nicht, wann ich stark genug war, zurückzukommen. Stark genug, um Logan wiederzusehen. Stark genug, um Jared unter die Augen zu treten.
"Babe?", raunte Finn mir ins Ohr, der sich unbemerkt neben mich gelegt hatte. "Hm?", fragte ich, ohne meinen Blick von den Decke abzuwenden.
Er sagte nichts weiter, sondern begann sanft meinen Hals zu küssen. Ich wehrte mich nicht, sondern schloss einfach meine Augen und ließ ihn machen. Auch, wenn ich wusste, dass es nicht richtig war: Finn verurteilte mich nicht und wir wussten beide, dass es nichts Ernstes war. Wir wollten beide einfach nur abschalten.
Sein Mund wanderte über mein Schlüsselbein zu meinem Brustansatz und er hinterließ unzählige kurze Küsse auf meiner Haut. Anschließend arbeitete er sich wieder nach oben und legte seine Lippen auf meine. Erstaunt öffnete ich die Augen und sah, dass er sich mittlerweile über mich gebeugt hatte, während er sich seitlich von meinem Kopf mit seinen Händen abstützte. Dann fuhr er mit seinen Lippen meine Wange zu meinem Ohr entlang, um dort sanft in mein Ohrläppchen zu beißen. 

Sofort schrillten meine Alarmglocken und ich drückte ihn von mir weg. Glücklicherweise ließ er es zu und setzte sich neben mich auf den Boden.
"Was ist los, Babe?" 
Ich merkte, dass meine Atmung immer schneller wurde und konnte nicht verhindern, dass mein gesamter Körper zu zittern begann. Es erinnerte mich zu sehr an Logan. An den Tag, an dem alles zu Bruch ging. Er hat mir auch in mein Ohrläppchen gebissen und ich habe nie zuvor in meinem Leben so eine Angst gefühlt, wie in diesem Moment. Bis jetzt. Ich wimmerte leise und setzte mich auf.
"Babe?", versuchte Finn es nochmal. "Tut dein Arm wieder weh?"
Mein Arm. Die Verletzung hatte ich mittlerweile komplett vergessen - zumindest, wenn ich den Arm nicht ansah. Er war fast komplett verheilt, aber man konnte bereits sehen, dass eine hässliche, weiße Narbe bleiben würde, die einmal über meinen gesamten Unterarm verlief. 
"Nein. Nein, meinem Arm geht es gut."
"Was ist dann?"
"I-ich, ich muss mal hier raus!" Obwohl er ja schon längst von mir abgelassen hatte, baute sich die Panik, die meine Brust zuschnürte, immer weiter auf, sodass ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. 
Abrupt erhob ich mich, weswegen ich zunächst kurz innehalten musste, bis mir nicht mehr schwarz vor Augen war. Dann lief ich in eiligen Schritten hinaus, wobei ich nicht auf Finns Rufe achtete. Ich merkte, wie mir die Tränen kamen und versuchte erst gar nicht, diese aufzuhalten, da ich wusste, dass es sowieso keinen Sinn haben würde.

Sobald ich draußen war löste sich der Knoten in meiner Brust und ich ließ mich erschöpft auf dem Boden nieder, während ich die frische Nachtluft einatmete. 
So saß ich eine Weile auf dem Boden und weinte stumm vor mich hin, bis ich mich stark genug fühlte, wieder hinein zu gehen.
Bevor ich jedoch wieder den Raum betrat, in dem sich die Anderen befanden, wischte ich mir meine Tränen von den Wangen und setzte genau das Lächeln auf, das ich schon so oft gefälscht hatte.


Kurze Info: Das war die letzte Rückblende, ihr habt es geschafft :D


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