Kapitel 41

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Jared

Als ich in ihre Richtung blickte, war ich mir zunächst nicht hundertprozentig sicher, ob sie es wirklich war. Sie sah anders aus. Ihre dunkelbraunen Haare waren ein gutes Stück kürzer und endeten nun knapp unter ihren Schultern. Sie unterhielt sich mit einem Typen, den ich zuvor noch nie hier - und noch weniger in ihrer Nähe - gesehen hatte. 
Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab und die Andeutung seines Bartes sah ungepflegt aus. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was Avery mit diesem Typen zu tun hatte, er brachte sie zum Lachen. Immer wieder - und das tat mir verdammt weh. Warum war er nun an meiner Stelle? Warum wollte sie nicht mich um sich haben, damit ich sie aufmuntern konnte?


Als sie ihren Kopf leicht in den Nacken warf, nachdem er wieder etwas - wahrscheinlich unglaubliches Witziges - gesagt hatte, wandte sie sich leicht in meine Richtung, sodass ich einen genaueren Blick auf sie werfen konnte. 
Ihre Augen waren schwarz geschminkt und sie trug einen dunkelroten Lippenstift. Ihr bauchfreies Top - falls man es noch als solches bezeichnen konnte - endete nur knapp unter ihrem Brustansatz. Darüber trug sie eine weite Jeansjacke. 
Musste sie nicht extrem frieren, wenn sie im Dezember so gekleidet herumlief? Noch weniger als das gefiel mir die Vorstellung, dass sie in diesen Klamotten vor dem zwielichtigen Typen stand.
Halb vor Enttäuschung, halb vor Wut, dass sie allem Anschein nach nicht nach mir gesucht hatte, seit sie wieder da war, ballte ich meine Hände zu Fäusten und ging auf sie zu.
Praktischer Weise verabschiedete sie sich genau in dem Moment von dem Typen und begann in ihrer Handtasche nach etwas zu kramen. 


Ich würde es einfach so gerne verstehen: Warum sie gegangen ist und was mit ihr passiert ist, als sie weg war. 
Sie wandte sich gerade zum Gehen, als ich bei ihr angekommen bin und sanft ihren Arm packte, darauf bedacht, sie nicht zu erschrecken. 
"Avery?"
Ich spürte, wie sie erstarrte, als ich sie berührte und ihren Namen sagte. Sie wusste, dass ich es war und es dauerte einen Moment, bis sie sich letztendlich zu mir umdrehte. Für einen Sekundenbruchteil konnte ich es in ihren Augen sehen: ihren Schmerz, ihre Verunsicherung. Aber dann setzte sie eine emotionslose Maske auf und wartete einfach, ob ich noch etwas mehr zu sagen hatte, als bloß ihren Namen.
Wenn man sie so ansah, könnte man meinen, ihr geht es gut. So wie sie vorhin gelacht hatte, wie - vermeintlich - selbstsicher sie auftrat, aber so war es nicht. Ich konnte deutlich sehen, wie erschöpft sie tatsächlich unter ihrer Make-Up Schicht war. Ihre Augenringe traten trotz allem deutlich sichtbar hervor und ihre Augen strahlten eine solche Leere aus, dass ich plötzlich das Bedürfnis hatte, sie in den Arm zu nehmen und ihr zu versichern, dass alles gut werden würde.
Ein genauerer Blick in ihre Augen hielt mich jedoch zunächst davon ab. Ihre Pupillen waren unnatürlich geweitet und ich erkannte, dass sie sich wahrscheinlich nicht nur äußerlich verändert hatte.
Sie wurde langsam ungeduldig und nahm einen Zug von ihrer Zigarette, als - Moment mal.
"Ist das dein verdammter Ernst, Avery?", rief ich.
"Was meinst du?" Sie wirkte so desinteressiert, dass es fast schon weh tat.
"Das alles hier!" Ich deutete auf sie. "Bist du high? Und seit wann rauchst du bitte?"
Sie verdrehte genervt die Augen und antwortete: "Ich kann doch wohl selbst entscheiden, was ich tue und was nicht. Ist ja nicht dein Problem. Ich bin nicht dein Problem!"
"Natürlich kannst du machen, was du willst! Aber das bist nicht du! Ich erkenne dich überhaupt nicht wieder."
Wütend riss ich ihr die Zigarette aus der Hand und warf sie auf den Boden, wo ich sie austrat.
"Was soll der Scheiß?", schrie sie. Jetzt war auch sie nicht länger ruhig. 
Ich packte sie an ihren Schultern und sah ihr tief in die Augen. Sie versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien, aber schaffte es nicht.
"Ich mache mir Sorgen, verdammt!", rief ich. Mir war durchaus bewusst, dass das letzte Wort an Intensität verloren hatte und meine Stimme am Ende des Satzes brach.
"Das bist nicht du!", wiederholte ich leise, aber eindringlich.
"Du hast keine Ahnung, wer ich bin. Du kennst mich gar nicht." Auch sie schrie nicht mehr, sondern redete in normaler Tonlage mit mir.


"Hey, lass sie sofort los!" 
Überrascht sah ich zur Seite, ohne meinen Griff jedoch zu lockern und entdeckte den Typen, mit dem sie sich vorhin unterhalten hatte. Er sah wütend aus und kam mit schnellen Schritten auf uns zu. 
"Wird's bald?" Er packte meinen Oberarm, aber er schaffte es nicht einmal annähernd, mich auch nur um einen Zentimeter von Avery wegzureißen. Auch er schien zu merken, dass er mit seiner schlaksigen Figur keine Chance hatte, also gab er es schließlich auf und fragte:
"Wer ist der Typ, Avy?" 
Ich drehte mich zu ihm um und sah in seine Augen. Sie strahlten eine unendliche Leere aus und auch seine Pupillen waren geweitet, genau wie Averys. Ich blickte zwischen den Beiden hin und her und verstand. Auf keinen Fall würde ich zulassen, dass er es schaffte, auch sie innerlich sterben zu lassen und wie ich vermutete, war er gerade dabei genau das zu tun.
Avery und ich ignorierten seine Frage und ich schenkte ihr nun wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
"Und er kennt dich, Avery? Er weiß, wer du bist?"
"Finny versteht mich. Er war für mich da, als es mir schlecht ging."
Dieser Satz brachte das Fass zum Überlaufen.
"Und wer bin ich für dich?" Sie antwortete nicht, sondern senkte nur den Blick und sah auf ihre Füße.
"Ich wollte für dich da sein. Aber du hast es nicht zugelassen!"
Sie regte sich kein Stück und schaffte es auch nicht, mir wieder in die Augen zu sehen. Ich hatte das Gefühl, sie wartete einfach, bis ich verschwand und sie wieder alleine mit Finny sein konnte.
Also tat ich ihr den Gefallen und ließ sie los. Ich warf ihr noch einen letzten Blick zu, aber sie sah immer noch nicht auf. Schweren Herzens drehte ich mich um und ging.


Sie hatte sich verändert. Sie war eine andere Person geworden und Finn war dafür verantwortlich. Alleine der Gedanke, dass sie sich gegenseitig Finny und Avy nannten, rief bei mir schon einen Würgreflex hervor.
Aber was sollte ich jetzt tun? Was konnte ich überhaupt tun?

Gab es überhaupt eine Möglichkeit, dass sie wieder zu der Avery wurde, in die ich mich verliebt hatte?

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