Kapitel 43

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Ich konnte mir durchaus Schöneres vorstellen, als um vier Uhr morgens auf dem Boden liegend aufzuwachen. Vor allem, wenn ich mich auch noch auf dem dreckigen Boden eines verwahrlosten Hauses befand, in dem es äußerst penetrant nach Erbrochenem roch. Mein Mund fühlte sich trocken an und in der Sekunde, in der meine Gedanken nicht mehr durch den Schlaf - oder die Pille - getrübt waren, bemerkte ich das Stechen in meinem Kopf. Es war nicht wie ein normaler Kater, auch wenn ich auf diesem Gebiet eigentlich sowieso nicht so viele Erfahrungen hatte, nicht einmal an dem Tag, an dem ich bei Jared aufgewacht bin, war es so schlimm, wie jetzt gerade. 
Mit aller Kraft stützte ich mich auf meinen Händen ab, um aufzustehen, aber sofort überkam mich ein Schwindelgefühl und ich fiel wieder auf  zurück auf meinen Bauch. Das konnte doch nicht wahr sein. 

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, um nach Finn Ausschau zu halten. Überall im Zimmer waren Leute verteilt, die an den unglaublichsten Orten eingeschlafen sind. Ein Junge mit langen blonden Locken schlief auf einem der alten Klappstühle, die fast alle irgendwann im Laufe des Abends umgekippt waren und das Mädchen, das gestern links von mir gesessen hatte, als die Tüte herum gegeben wurde, hatte es sich auf der Lehne eines Sessels bequem gemacht.
Es war mir ein Rätsel, dass sie es schaffte, da zu liegen ohne herunterzufallen. 
Aber wo war Finn? Da ich ihn nirgendwo im Raum entdecken konnte, rief ich leise seinen Namen. Ich war nicht leise, weil ich bloß niemand anderen wecken wollte, sondern weil meine Stimme in dem Moment einfach nicht zu mehr in der Lage war und nur noch wie ein Krächzen klang.

Ich erhielt keine Antwort, aber spürte stattdessen wenig später eine Hand auf meinem Hintern. Erschrocken riss ich die Augen auf und sah nach hinten. Da lag Finn; neben mir, aber eher auf Höhe meiner Beine. Es schien, als würde er schlafen, aber ich hatte das kleine Lächeln, was für einen Moment über seine Lippen gehuscht war, genau gesehen. Finns Hand, die meinen Hintern umfasste, war mir äußerst unangenehm, weswegen ich im Begriff war, sie mit meiner Hand hinunterzunehmen, als er ein Stück weiter zu mir rutschte und seine Hand selbst von meinem Hintern entfernte, um sie um meine Taille zu legen. Ich zog scharf die Luft ein.

Er sollte mich nicht anfassen, ich kannte ihn doch kaum. Warum tat er das? 
Da sah ich plötzlich ein Bild in meinem Gedanken. Von uns beiden wie wir uns küssten und... was war dann? Was ist danach passiert? Verdammt, ich wusste es einfach nicht. Alles was danach bis zu meinem Aufwachen passiert war, war einfach weg. 
Ich versuchte mich aus Finns Griff zu lösen, aber er festigte ihn in dem Moment, in dem ich mich regte. 
"Süße, es ich noch zu früh.", nuschelte er verschlafen. 'Süße'? Wann waren wir denn so weit gekommen? Oder nannte er einfach jedes Mädchen so? 
Erstaunt sah ich ihn an.
Seine schwarzen Haare klebten an seiner schwitzigen Stirn und seine Lippen und Augenpartie waren stark gerötet, während seine Haut unnatürlich blass war. Ein Schauer lief durch meinen Körper, als ich merkte, dass seine Hand, die langsam meinen nackten Rücken herauf fuhr, ebenfalls stark schwitzte.
Er ekelte mich einfach nur an und das Gefühl wurde nicht besser, als mir klar wurde, dass ich nur noch meinen BH am Oberkörper trug. Ich hoffte wirklich, dass zwischen uns beiden nichts weiter als der Kuss war. 
"Finn, ich muss mal ins Bad.", sagte ich, damit er mich endlich gehen ließ - und weil ich wirklich mal ins Bad wollte, sofern dieses Haus übrigens so etwas besaß.
Entgegen meiner Erwartung ließ er mich tatsächlich los und nuschelte: "Die Treppe runter und dann direkt links."

Auch wenn mir immer noch schwindelig war, schaffte ich es diesmal aufzustehen und den Raum zu verlassen. Ich folgte seiner Beschreibung und befand mich wenig später in einem kleinen Raum, der eher einer Abstellkammer glich, als einem Bad. Aber wenigstens war es eine Abstellkammer mit einer Toilette, einem Waschbecken und einem Spiegel. Jedes dieser Möbelstücke hatte wahrscheinlich schon bessere Tage gesehen und war mit unzähligen Rissen übersät. Vom Toilettensitz war ein großes Stück abgebrochen, sodass ich bezweifelte, dass sich noch irgendjemand traute, diese Toilette zu benutzen. 

Ich wandte meinen Kopf zum Spiegel und betrachtete mich. Auch meine Haare waren mit Schweiß durchtränkt und klebten an meinem Gesicht. Mein restlicher Körper sah genauso aus, wie ich mich fühlte: dreckig, verschwitzt - einfach eklig.
Eigentlich ekelte ich mich genauso vor mir selbst, wie ich mich zuvor vor Finn geekelt hatte. Ich sah genauso fertig aus wie er. Ich war genau so ein Wrack wie alle, die sich hier im Haus befanden - oder zumindest auf dem besten Weg dahin.
Hastig schüttelte ich meinen Kopf, um diesen Gedanken zu verwerfen. Das würde nicht passieren. 

Seufzend machte ich mich wieder auf den Weg zu den Anderen und wurde sobald ich den Raum betreten hatte, auch schon mit einer Umarmung von Finn empfangen. Dann drückte er mir einen kurzen Kuss auf die Lippen und sah mich irgendwie nachdenklich, aber auch leer an. Ich hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, einen Blick zu haben, der gleichzeitig so viel und doch so wenig aussagte. Der Kuss war jedoch so schnell wieder vorbei, dass ich überhaupt keine Zeit hatte, mich irgendwie dagegen zu wehren.
"Alles klar, Babe?" Bei seinem letzten Wort zuckte ich innerlich zusammen. Warum nannte er mich ständig so?
Babe. Süße. 
"Finn, ist gestern was passiert... also zwischen uns? Ich habe nen totalen Blackout von allem, was nach dem Kuss geschehen ist."
Sofort begann er zu grinsen.
"Oh, Babe, es ist nicht nur bei einem Kuss geblieben." Mein Herz setzte für einen Moment aus, als er diese Worte aussprach. "Aber wir haben nicht miteinander geschlafen, falls zu das meinst."
Erleichtert atmete ich aus.
"Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Nicht?", fügte er hinzu und kneifte mir in den Hintern. Ich zuckte zusammen und quietschte kurz auf. Dann trat ich einen Schritt zur Seite, um etwas Abstand zwischen uns zu bekommen, was im Nachhinein überhaupt nicht notwendig war, da er mit seinen Worten selbst ein Stück wegging, um mit dem Typen mit den langen Locken zu reden.

Frustriert warf ich den Kopf in den Nacken und legte meine Hände auf mein Gesicht. Was tat ich überhaupt hier? Warum hing ich mit einem Haufen schwieriger Junkies ab, die wahrscheinlich überhaupt nichts in ihrem Leben auf die Reihe bekamen?
"Babe?"
Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich sah wieder zu ihm. Er hielt mir eine Zigarette entgegen und sah mich fragend an.
"Magst du eine? Siehst aus, als könntest du es gerade brauchen."
Sofort schüttelte ich heftig meinen Kopf. Ich hatte echt genug davon, meine Prinzipien über Bord zu werfen.
"Nein. Ich rauche nicht."

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