Kapitel 39

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Jared  

Einen Monat später

Ich fühlte mich wie eine Maschine. Mein Leben lief zwar weiter, aber ich blieb einfach auf der Stelle stehen. Ich hatte keine Ahnung, wo Avery steckte und würde ich nicht ständig an sie denken und mir Sorgen um sie machen oder mich fragen, was sie wohl gerade tat, dann würde es mir fast so vorkommen, als sei es bloß eine Einbildung gewesen, dass sie jemals da war.
Aber das war etwas, was ich auf keinen Fall tun wollte: Avery vergessen.
Allein der Gedanke, es könnte passieren, versetzte mir einen Stich in die Brust. Es war aber tatsächlich so, dass sie keine Spuren zurückgelassen hatte; außer ihrer zerstörten Wohnung, bei der ich aber lange nicht mehr war.
Irgendwann hatte ich es aufgegeben zu hoffen, sie würde wieder dorthin zurückkommen. Ansonsten gab es aber auch niemanden, der mir irgendwie weiterhelfen konnte. Mit Liam hatte ich mich noch einmal getroffen, in der Hoffnung, er könnte mir einen Hinweis geben, wo Avery sein könnte. Aber dieses Treffen war reine Zeitverschwendung, denn er wiederholte ständig, er könnte mir keine vertraulichen Infos über sie geben, da er sich an die Schweigepflicht halten musste. 
Als ich herausgefunden hatte, dass er Avery kannte, weil er ihr Psychologe war, kam wieder meine ganze Wut Logan gegenüber hoch. Nur wegen ihm ging es ihr so schlecht, dass sie Hilfe brauchte. Und dieser Gedanke tat mir weh.
Klar, ich wusste, dass Logan es als Kind nicht leicht hatte, aber das gab ihm nicht das Recht, anderen genau das anzutun, was ihm angetan wurde. An diesem Tag war ich kurz davor, Logan wieder einen Besuch abzustatten, aber ich schaffte es mich zurückzuhalten, indem ich mir immer wieder sagte, dass ich nicht so sein wollte, wie er oder wie Dad. Dass ich niemanden zusammenschlagen wollte.


Ein Tippen an meiner Schulter riss mich aus meinen Gedanken. Ruckartig fuhr ich herum und konzentrierte mich auf die Person, die nun vor mir stand. Es war Sara, die mich verständnislos ansah. 
"Was?", fragte ich gereizt. Sie zuckte leicht zusammen, da sie die Härte in meiner Stimme verschreckte.
"Ich hatte gefragt, ob es Neuigkeiten von Avery gibt.", klärte sie mich auf. Warum wollte sie das überhaupt wissen? Sie war zwar mit Avery befreundet gewesen, aber diese Freundschaft schien nicht allzu tief gewesen zu sein, wenn man bedachte, dass sie hinter Averys Rücken zu Logan gegangen war und ihm von dem Kuss erzählt hatte. Ihre Hinterhältigkeit widerte mich an. 
Wir hatten zwar nie konkret über unsere Trennung gesprochen, aber wir wussten beide, dass es nie hätte sein sollen. Ich wusste auch gar nicht mehr, warum ich mich überhaupt auf diese Beziehung eingelassen hatte. Wahrscheinlich hatte ich tief im Inneren gehofft, ich konnte Avery so näher sein. Da ich manchmal wirklich nicht fair zu ihr war und sie mich wahrscheinlich deswegen hasste, nutzte ich die Tatsache, dass Sara und Avery so oft zusammen waren, aus, um sie trotzdem sehen zu können.
Aber nachdem ich anfing zu ahnen, was Logan ihr antat, verstand ich einfach nicht, wieso sie sich nicht helfen lassen wollte. Ich war mir sicher, dass sie wusste, dass ich Verdacht geschöpft hatte und gerade von diesem Moment an, verschloss sie sich. Sie hätte sich ja nicht mir öffnen müssen, sondern einfach irgendjemandem, dem sie vertraute. Es tat mir weh zu sehen, wie es sie Stück für Stück innerlich zerstörte. 
Averys Situation ähnelte der von Logan einfach viel zu sehr: Und wieder wusste ich Bescheid und tat nichts. Deswegen konnte ich ihr einfach nicht mehr in die Augen sehen, ich wollte sie meiden, um meinen Schmerz zu verringern und alles endete in einer Katastrophe.


"Verdammt, was ist los mit dir, Jared?"
Ich sah zu Sara, die mein Handgelenk umklammert hatte. Bevor ich fragen konnte, was sie da tat, hatte ich es bereits gesehen: Meine Knöchel waren gerötet und einer war aufgeplatzt, sodass etwas Blut meinen Handrücken hinunter lief. Mein Blick glitt weiter zur Wand, an der sich ebenfalls etwas Blut befand. 
Ich hatte vor Wut unbewusst auf die Wand eingeschlafen; und der Schmerz fühlte sich erstaunlich gut an. Fast so, als hätte ich ihn verdient, weil ich immer nur der Beobachter war, schon mein ganzes Leben lang.
Als Antwort schüttelte ich nur den Kopf, da ich nun wirklich nicht unbedingt mit Sara meine Gefühle genauer erörtern wollte. Sie akzeptierte es und stellte mir erneut ihre Frage.
"Es gibt nichts Neues." 
"Wo kann sie denn nur hingegangen sein?" Ich wusste nicht genau, ob sie diese Frage mir stellte, oder sich selbst.
"Warum interessiert dich das überhaupt?"
"Naja, wir waren immerhin Freunde!", rief sie empört.
"Und du hast sie verraten, deine Freundin."
"Ach komm, fang nicht schon wieder damit an. Das hatten wir doch schon."
"Siehst du etwa immer noch nicht ein, dass du falsch gehandelt hast? Du hättest das mit Avery klären können und nicht direkt zu Logan gehen sollen."
Sara wollte sich gerade weiter verteidigen, als ich irgendwo hinter mir eine aufgeregte Stimme hörte, die Averys Namen sagte. 


Ich drehte mich in die Richtung, aus der die Stimme kam, um und entdeckte eine Frau in einem Blazer, die alle möglichen Leute ansprach und dabei aussah, als würde sie jeden Moment umkippen. Ohne zu wissen, mit wem ich es zu tun hatte, ging ich zu der Frau.
"Sind sie sich sicher? Avery Grimes, sie studiert hier." Ihre Stimme zitterte etwas, als sie die Worte aussprach und der Junge, den sie angesprochen hatte, nur desinteressiert mit dem Kopf schüttelte.
"Entschuldigen Sie?", fragte ich, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
Sofort wandte sie sich zu mir und als ich ihr in die Augen sah, wusste ich sofort, wer sie war. Diese Augen würde ich überall wieder erkennen.
"Sie sind Averys Mutter, oder? Ich bin Jared.", stellte ich mich vor.
"J-ja, die bin ich!", rief sie aufgeregt. "Weißt du, wo sie steckt?"
Allein der Gedanke, ihre Hoffnung gleich wieder zu zerstören, tat weh. 
"Tut mir Leid, ich weiß es nicht. Aber ich war mit ihr befreundet... Könnten wir uns vielleicht unterhalten?"
Ich hatte das Gefühl, ich war so nah an Avery, wie seit dem Tag an dem sie verschwand nicht mehr. Es war eine einmalige Chance, da ich endlich jemanden gefunden hatte, der sie kannte, um vielleicht Hinweise auf ihren Aufenthaltsort zu finden.
Die Andeutung des Lächelns, die für einen kurzen Moment ihr Gesicht zierte, verschwand direkt wieder. 
Trotzdem stimmte sie meinem Vorschlag für ein Gespräch zu.



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