Kapitel 55

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"Ich habe einfach nur schlecht geträumt.", antwortete ich ausweichend. Ich wusste nicht, wieso ich meine Angst vor ihm so herunterspielte, denn alles in mir schrie danach, Jared von jedem einzelnen meiner Gedanken zu erzählen.
"Und deswegen warst du so aufgewühlt? Nein, fast schon panisch. Weil du schlecht geträumt hast?" Er erkannte, dass da noch mehr dahinter war.
Ich antwortete ihm nicht, sondern sah einfach nur die Decke über mir an und überlegte, was ich sagen könnte.
"Bitte, sprich mit mir.", flehte er mich an und drückte dabei meine Hand, die immer noch mit seiner verschränkt war, noch etwas fester. Ich wandte meinen Kopf zu Jared und sah ihm in seine rehbraunen Augen, bevor ich doch zu reden begann. Was hatte ich denn schon zu verlieren?

"Ich habe von Logan geträumt." Jareds Körper spannte sich bei seinem Namen für einen Moment an und seine Augen wirkten plötzlich viel trauriger, als noch wenige Sekunden zuvor. Als wüsste er, was jetzt kommt.
"Dass er mich auf der Party gefunden hätte und nicht du. Ich hatte einfach Angst, es könnte wahr sein." Als ich meine Gedanken aussprach, kam ich mir auf einmal ziemlich blöd vor, dass ich wegen so einem harmlosen Traum so panisch geworden war. Jared reagierte jedoch ganz anders, als ich erwartet hatte: Er machte sich nicht über mich lustig, dass ich so leicht aus der Bahn zu werfen war, sondern sah mich weiterhin mit einem ernsten, aber liebevollen Blick an. 
"Hattest du sie öfter? Diese Albträume? Albträume von ihm?"
Langsam nickte ich und presste meine Lippen aufeinander, bevor ich ihm antwortete.
"Ständig. Sie kamen immer in den Nächten, in denen ich bei Logan übernachtet habe. Und genau an diese Nächte kann ich mich nicht erinnern, denn Logan, er hat..." Meine Stimme brach am Ende des Satzes und alleine durch Jareds Gesichtsausdruck sah ich, dass er wusste, was ich sagen wollte und dass ich den Satz einfach nicht zu Ende sprechen konnte. In diesem Moment konnte ich so viele Gefühle in Jareds Gesicht sehen: Wut, Entsetzen, Traurigkeit.

Wortlos legte er einen Arm um mich und zog mich zu sich. "Das hätte niemals passieren dürfen. Ich wollte das nicht."
"Jared, du bist nicht Schuld. Du bist nicht für Logan verantwortlich gewesen."
Er schwieg eine Weile, bevor er antwortete.
"Weißt du, warum ich mich am Anfang von dir distanziert hatte?" Erwartungsvoll sah er mich an und ich schüttelte den Kopf, als mir klar wurde, dass er ohne eine Reaktion von mir nicht weiterreden würde.
"Ich hatte diesen Verdacht und es hat mich daran erinnert, was Logan durchmachen musste. Er konnte sich nicht wehren und es hat ihn zerstört. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass du nichts unternommen hast; dass du es zugelassen hast, dass er dir das antut. Es war wie damals: Ich sah nur dabei zu, wie es passierte, aber war unfähig etwas zu tun." Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie nur noch ein leises Flüstern war.
"Du kanntest mich doch kaum, ich hätte wahrscheinlich sowieso nicht auf dich gehört."
Ich wollte ihm einfach seine Schuldgefühle nehmen, es tat mir weh zu sehen, wie sehr er an seiner Entscheidung litt.
"Aber ich wusste es, Avery. Ich wollte es nur von dir hören: die Bestätigung, dass es stimmte. Logan ist immerhin trotzdem mein Bruder und ich hatte einfach gehofft, dass ich mich irre, dass er nicht zu so einem Monster geworden ist. Ich brauchte Gewissheit, aber du hast sie mir nie gegeben."
In seinen Worten war so viel Schmerz und Bedauern, dass sich meine Brust krampfartig zusammenzog und ich ihm am liebsten alle seine Sorgen nehmen wollte.

Eine Weile lagen wir einfach nebeneinander. Sein Arm um meine Taille geschlungen und mein Kopf an seiner Brust lehnend. Mit seiner anderen Hand strich er sanft über meine Wange und zu keinem Zeitpunkt lösten wir den Blick voneinander. Am liebsten wäre ich für immer in dieser Position liegen geblieben, aber natürlich ging das nicht. 
"Du musst Logan anzeigen.", unterbrach Jared die angenehme Stille. "Er darf damit nicht durchkommen."
"Ich weiß.", seufzte ich. "Aber was ist mit Sam? Was ist mit meinen Eltern? Sie würden es erfahren und es wäre mir so unglaublich peinlich, wenn sie es wissen würden. Dass ich nichts unternommen habe."

"Du musst das nicht alleine machen, okay? Wir werden das zusammen durchstehen; ich werde dich nicht wieder im Stich lassen."

Seine Worte sorgten für eine angenehme Wärme, die sich in meinem Körper ausbreitete. Womit hatte ich ihn nur verdient? 
"Danke.", hauchte ich, denn ich wusste nicht, was ich weiter hätte sagen können. Aber niemals zuvor hatte ich diesem Wort so viel Bedeutung beigemessen, wie in diesem Moment.
Als Antwort zog Jared meinen Kopf ein Stück zu sich heran und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Kurz verharrte er mit seinen Händen an meinen Wangen und er sah mich einfach nur an. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er wirkte einfach glücklich. Glücklicher, als ich ihn je zuvor erlebt hatte.

***

Die Berührung von Jareds Lippen, die Küsse auf meiner Haut verteilten, weckte mich am nächsten Morgen. Ich konnte nicht anders, als zu lächeln und den Moment zu genießen, also tat ich so, als würde ich noch schlafen, damit er auf keinen Fall aufhören würde.
Wahrscheinlich wusste er, dass ich nicht schlief, aber er sagte nichts. Seine Lippen wanderten gerade von meinem Hals zu meiner Schulter. Jareds Küsse waren ganz anders, als Logans und Finns. Liebevoller, zärtlicher. Keiner sonst schaffte es, dieses warme Gefühl in meiner Magengegend zu verursachen, dass mich nahezu vor Glücksgefühlen platzen ließ.
Mittlerweile arbeitete sich sein Mund an meinem Arm entlang weiter hinunter, bis er an meinem Unterarm angekommen war und kurz innehielt, bevor er den letzten Kuss an meinem Handgelenk platzierte. 

Gerade als ich meine Augen öffnete, sah ich, wie sich Jareds Körper von der Matratze erhob. Ich beobachtete, wie er sich hastig anzog und das Zimmer in der nächsten Sekunde verließ.
"Jared? Alles okay?", rief ich nach ihm. Währenddessen war auch ich aus dem Bett aufgestanden und ging gerade in Richtung Schlafzimmertür, als er an mir vorbeirauschte und die Haustür öffnete.
"Jared?" Meine Stimme klang zerbrechlich, was mich unheimlich ärgerte.
Noch bevor ich seinen Namen zu Ende gesagt hatte, hatte er, ohne mich zu beachten, die Tür bereits mit einem lauten Knall zugeschlagen und ließ mich alleine und verwirrt in seiner Wohnung zurück.

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