Kapitel 40

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Jared

Wir gingen in ein kleines Bistro auf dem Campus, um uns zu unterhalten. Der Lautstärkepegel war ähnlich hoch, wie in einer überfüllten Mensa, da sich auch hier - obwohl der Raum natürlich viel kleiner war - unzählige Studenten aufhielten und miteinander redeten. Auch Averys Mutter sah sich eine Weile im Raum um, bevor ihr Blick auf mich fiel. 


"Warum?" 
Ohne vorher darüber nachzudenken hatte ich die Frage gestellt, die mir seit unserer Begegnung im Kopf herumspukte. Averys Mutter wirkte irritiert und sah mich verständnislos an, mit der stummen Bitte an mich, die Frage zu erläutern.
"Warum erst jetzt? Warum tauchen Sie erst jetzt hier auf? Nach einem Monat!" Ich wusste, dass ich nicht dazu berechtigt war, ihr irgendwelche Vorwürfe zu machen, aber ich konnte mir keinen Grund vorstellen, warum ihr Averys Verschwinden erst jetzt auffiel.
"Wir stehen nicht ständig in Kontakt miteinander. Manchmal vergehen Wochen, bis wir telefonieren oder uns überhaupt sehen. Nur Sam - ihr Bruder - besteht immer darauf, sie besuchen zu gehen. Vor etwa vier Wochen sollte Sam sie eigentlich übers Wochenende besuchen kommen, aber sie rief einige Tage vorher an und sagte ab, da sie eine Abgabe hatte und sich voll und ganz darauf konzentrieren wollte."
Ich öffnete den Mund ein Stück, um etwas zu sagen, aber sie zeigte mir mit einer Geste, dass sie noch nicht fertig mit reden war.


"Es wunderte mich, dass die Nummer von der sie anrief nicht ihre war, aber ich beschloss mir später Gedanken darum zu machen, da ich zu dieser Zeit selber viel zu tun hatte. Danach habe ich es schlichtweg vergessen. Und ich weiß, dass es nicht in Ordnung war, das musst du mir jetzt nicht sagen. Vor einigen Tagen ist es mir dann wieder eingefallen und ich rief sie an, aber es ging nur die Mailbox ran. Ich probierte es immer wieder, aber es änderte sich nichts. Immer wieder die Mailbox. Heute Morgen war ich bei ihrer Wohnung, aber dort war sie auch nicht. Dann habe ich Panik bekommen. Mein Mann und ich waren selten für sie oder ihren Bruder da, also musste es ja so kommen. Mir fällt nicht einmal auf, dass meine einzige Tochter spurlos verschwunden ist."
Mit diesen Worten vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen und ich fühlte mich etwas hilflos, da ich nicht wusste, was ich jetzt tun sollte. Klar fand ich es unmöglich, dass sie erst nach dieser langen Zeit nach Avery suchte, aber wenn ich sie so vor mir sitzen sah wusste ich, es wäre nicht fair, ihr jetzt noch mehr Vorwürfe zu machen - so gerne ich es tun würde.
Es dauerte nur etwa eine Minute bis sie sich wieder gefasst hatte und aufrecht auf ihrem Stuhl saß.
"Du hast also wirklich nichts von ihr gehört?"
Ich schüttelte enttäuscht meinen Kopf, da wahrscheinlich das selbe für sie galt. Da selbst Averys Mutter nicht wusste, wo man nach ihr suchen könnte, schien es mir plötzlich unmöglich, jemals irgendeine Spur zu finden, die zu ihr führen würde.
Ich wollte gerade aufstehen, als sie jemanden zu uns winkte.
"Logan! Kannst du vielleicht kurz kommen?"
Mein ganzer Körper erstarrte und ich wagte es nicht, mich nach hinten umzudrehen. Wir hatten zwar eine Art Aussprache miteinander gehabt, aber das hieß nicht, dass ich ihm auch nur im Geringsten verzeihen konnte, was er Avery angetan hatte. 
Ich hörte, wie seine schweren Schritte auf uns zu kamen und dann stand er auch schon neben mir.
"Komm setz dich doch einen Moment zu uns.", forderte sie ihn auf, woraufhin er sich einen Stuhl nahm und sich niederließ.
"Was gibt's Mrs. Grimes? Und Jared." Ich hörte, dass seine Stimme bei meinem Namen eiskalt wurde. 
"Hast du zufällig eine Ahnung, wo Avery steckt? Ihr seid doch zusammen, also musst du es ja irgendwie wissen. Ich hätte dich auch angerufen, aber ich habe deine Nummer leider nicht."
Etwas Dunkles huschte über Logans Gesicht und ich hielt merkbar die Luft an, als mir eine Sache dämmerte: Averys Mutter hatte keine Ahnung, was er getan hatte.
Wie konnte das sein? Wenn sie es wüsste, würde sie jetzt nicht so entspannt neben Logan sitzen können. Aber andererseits, ich hätte mir auch denken können, dass Avery ihr nichts erzählt hatte. Immerhin wusste niemand sicher Bescheid und hätte sie mich nicht angerufen und sich mir anvertraut, wüsste auch ich es nicht.
Da sie sowieso nicht für den Mutter-des-Jahres Preis nominiert werden würde, musste ich aber wirklich nicht überrascht sein. Es schockierte mich nur, die beiden nebeneinander an einem Tisch sitzen zu sehen, ohne dass sie wusste, wer Logan wirklich war.


"Ja, wir sind zusammen. Sie hat mir gesagt, sie würde für einige Wochen auf einer Exkursion sein, um an ihrer Hausarbeit zu schreiben. Wir telefonieren ab und zu, aber ich weiß nicht, wann sie zurück kommt."
Ich fühlte förmlich, wie mein Kinn gen Boden fiel. Was brachte es ihm, sie jetzt so anzulügen? Warum sagte er nicht einfach, er wüsste nicht wo sie steckt und dass sie nicht mehr zusammen waren? Denn ich hoffte, er wusste, dass sie nicht mehr zusammen waren. Alles andere wäre einfach krank - auch wenn das zu Logan passen würde. Er war doch irgendwie krank. Sein Handeln, seine Worte, das war nichts, was jemand tat, der noch bei Sinnen war.
"Das beruhigt mich jetzt aber etwas, wenn du Kontakt zu ihr hast. Aber wie erreichst du sie denn? Ich versuchte seit einigen Tagen, sie anzurufen, aber ihr Handy scheint aus zu sein."



"Ach das, ihr Handy ist kaputt gegangen und sie hat sich vorerst ein Prepaid Handy gekauft zur Überbrückung, bis sie wieder da ist."
"Danke für deine Hilfe, Logan! Könntest du sie dann vielleicht bitten, mich anzurufen, damit ich weiß, dass es ihr gut geht?"
Als er nickte, stand sie auf und schloss ihn in eine lange Umarmung - scheinbar als Dankeschön.
Ich war fassungslos - und wütend. Eine Mischung aus beidem. Wie konnte sie ihm diese Geschichte - die offensichtlich an den Haaren herbeigezogen war - glauben? Was er sagte, machte überhaupt keinen Sinn.
Ich hielt es keine Sekunde länger in dem Raum mit Logan aus und verabschiedete mich hastig, bevor ist das Bistro verließ.
Hätte ich es aufklären sollen? Hätte ich ihr sagen sollen, was wirklich passiert war und dass er wie gedruckt log? Irgendetwas hatte mich davon abgehalten, alles zu erzählen. Ich hatte das Gefühl, ich hätte nicht das Recht, jemandem davon zu erzählen, da immer noch Avery entscheiden sollte, wer es erfuhr. Außerdem war das Bistro voller Menschen gewesen und wer weiß, wer sonst noch alles zugehört hätte?
Ich sah, wie Averys Mutter in ihr Auto stieg und weg fuhr, während ich meinen Blick über die vereinzelten Studentengruppen auf dem Campus schweifen ließ. So schnell hatte sie also ihre Sorgen beruhigt. Und das durch Informationen von irgendeinem dahergelaufenen...


Meine Gedanken gerieten ins Stocken, als eine bestimmte Person meine volle Aufmerksamkeit erregte.

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