Ich wollte nicht mehr weinen, das hatte ich in der letzten Zeit zu oft getan. Aber leider schien es, als hätte ich diesbezüglich keinerlei Kontrolle über meinen eigenen Körper. Vor allem wollte ich nicht schon wieder vor Jared weinen. Aber wie könnte ich bei seinen Worten etwas Anderes tun, als zu weinen? Wie konnte er die Hoffnung haben, dass ich noch in irgendeiner Form zu retten war?
Ein Teil von mir wollte für immer in seinen Armen liegen bleiben, aber der andere Teil empfahl mir Abstand zu gewinnen. Widerwillig löste ich mich aus Jareds Umarmung und stand vorsichtig auf. Er hielt mich nicht davon ab, warf mir aber einen fragenden Blick zu.
"Ich..." Mehr brachte meine Stimme nicht zustande, bevor sie brach. Jareds Blick wurde wieder weicher und ich sah ihm an, dass er einen Kampf mit sich selbst führte, ob er mich wieder in den Arm nehmen oder mir etwas Freiraum gewähren sollte.
Ich nahm ihm die Entscheidung ab, indem ich in Richtung Bad deutete, um ihm zu verdeutlichen, dass ich kurz allein sein musste. Er verstand es sofort und ließ es zu.
Sobald ich die Badezimmertür hinter mir geschlossen hatte, drehte ich den Schlüssel um und ließ mich mit dem Rücken an der Tür entlang nach unten sinken. Dann lehnte ich meinen Kopf nach hinten und starrte die Decke an. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er so etwas sagen konnte. Obwohl er wusste, dass es nicht stimmte, was er sagte, versuchte er, dass ich mich besser fühlte.
Er war einer von den Guten. Und viel zu gut für mich.
Wie von selbst griff meine Hand in die kleine Seitentasche an meinem Kleid und meine Finger schlossen sich um die kleine Pille, die Finn mir als Reserve gegeben hatte. Mit meinem Daumen konnte ich deutlich die Gravur auf der Oberfläche fühlen und schloss meine Augen. Ich schüttelte mit dem Kopf, um mich davon abzuhalten eine Dummheit anzustellen, die ich später bereuen würde.
Meine Hand hörte jedoch nicht auf mich und holte die Pille aus der Tasche heraus. Ich öffnete meine Augen wieder, um sie mir anzusehen. Auch, wenn mein Körper danach schrie, wehrte ich mich vehement dagegen. Glücklicherweise würde mir die Entscheidung durch die Übelkeit, die wieder zurückkam, abgenommen. Ich ließ die Pille achtlos auf den Boden fallen, robbte die wenigen Meter zur Kloschüssel und übergab mich. Erneut.
Es klopfte an der Tür. "Avery?", fragte Jared besorgt. Wahrscheinlich hatte ich doch länger hier drin gesessen, als ich gedacht hatte. Auch wenn ich es gewollt hätte, wäre ich nicht in der Lage gewesen, ihm zu antworten, da ich nach wie vor über der Kloschüssel hing und meinen - eigentlich nicht mehr existenten - Mageninhalt hinauswürgte.
Ich hörte noch, wie Jared vor der Badezimmertür laut fluchte und dann eine Zeit lang nichts mehr, bis keine Minute später ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Tür aufgestoßen wurde. Sofort kniete sich Jared neben mich und redete beruhigende Worte auf mich ein.
Als ich mir sicher war, dass ich nicht noch einmal erbrechen werden müsste, lehnte ich mich ein Stück zurück und sah Jared an.
"Wie bist du reingekommen? Ich hatte doch abgeschlossen."
"Es gibt einen Ersatzschlüssel. Aber Avery, ich glaube nicht, dass das gerade wirklich wichtig ist. Ich denke, du solltest besser erstmal etwas schlafen, reden werden wir auch morgen noch können."
Ich nickte und verließ das Bad. Jared folgte erst einige Sekunden später und sein Blick war plötzlich ganz anders, als zuvor. Irgendwie dunkler.
Ich war gerade dabei, ins Wohnzimmer zu gehen, als Jared nach meinem Handgelenk griff und mich in Richtung Schlafzimmer zog.
"Du wirst auf meinem Bett schlafen. Ich nehme die Couch." Seine Stimme klang bestimmend, also widersprach ich nicht. Ich wäre sowieso viel zu müde dazu gewesen, wegen so etwas noch eine Diskussion anzufangen.
Jared gab mir zum Schlafen ein T-Shirt von sich und ich ging noch einmal ins Bad, um mich umzuziehen und abzuschminken.
Als ich mit dem T-Shirt, das mir in etwa bis zur Mitte meiner Oberschenkel ging, wieder das Schlafzimmer betrat, sah ich, dass Jared nachdenklich auf dem Bett saß und seine Hand beobachtete.
Ich erkannte sofort, was er da anstarrte und ein kalter Schauer durchfuhr meinen Körper. Als er merkte, dass ich wieder da war, hob er den Blick und wirkte nun einfach nur noch traurig und enttäuscht.
"Avery? Wolltest du die eben nehmen? In Bad meine ich, als du dich eingeschlossen hast?" Sofort schüttelte ich den Kopf.
"Ich habe sie... angesehen.", antwortete ich dann, was ja auch stimmte. Von nehmen wollen konnte auf jeden Fall nicht die Rede sein. Ich erkannte aber selbst, wie unglaubwürdig diese Aussage klang.
"Hast du noch mehr davon bei dir?" Wieder schüttelte ich den Kopf.
"Nur die." Jared wirkte erleichtert und kam auf mich zu. Er strich mir kurz mit dem Daumen über meine Wange und wandte für keine Sekunde den Blick ab. Die Enttäuschung, die sich in seinen Augen widerspiegelte, brannte sich in mein Gehirn ein. Ich hätte es ertragen können, wenn er einfach sauer gewesen wäre. Aber dieser enttäuschte Blick versetzte mir einen Stich ins Herz.
"Gute Nacht.", flüsterte er noch, bevor er das Zimmer verließ.
Sobald ich mich in sein Bett gelegt hatte, umhüllte mich Jareds Geruch und diese Tatsache ließ mein Herz noch mehr schmerzen. Er hatte mich nur aus Mitleid hierher gebracht, genau wie ich dachte. Darum wollte er auch auf der Couch schlafen. Ich machte ihm nur Umstände; er wollte mich nicht.
Wieder kamen mir die Tränen und flossen stumm meine Wange hinunter. Was hatte ich auch erwartet? Jemand wie Jared konnte jede haben, warum sollte er dann gerade mich wollen?
Ich befand mich wieder auf der Party. Auf dem Boden des Badezimmers und zitterte am gesamten Körper. Eilige Schritte kamen auf mich zu und ich spürte eine Hand an meiner Schulter. Erschrocken durch die Berührung schnellte mein Kopf hoch und ich sah, wie Logan neben mir hockte. Immer noch hatte er den wütenden Blick aufgesetzt, dann hob er die Hand langsam, aber bestimmt und ich riss die Augen auf, denn ich konnte ahnen, was mich jetzt erwarten würde.
Ich behielt Recht, denn nicht einmal eine Sekunde später spürte ich den brennenden Schmerz an meiner Wange.
"Wie kannst du es wagen, so mit mir umzugehen? Ich bin dein Freund, verdammt.", zischte er bedrohlich. Ein weiterer Schlag traf mich.
"Antworte mir!", schrie er nun. Ich war wie paralysiert und brachte deswegen einfach keinen Ton heraus. Dann stand er auf und ich war für einen Moment erleichtert, dass er möglicherweise gehen würde. Diese Hoffnung wurde aber sofort wieder zerstört, als er auf mich eintrat. Wieder und wieder und wieder.
Schweißgebadet wachte ich auf. Ich befand mich immer noch in Jareds Bett und alles war gut. Es war nicht Logan, der mich gefunden hatte, sondern Jared. Es war nur ein Traum, es ist niemals passiert.
Trotzdem zitterte ich am ganzen Körper.
Ich konnte jetzt einfach nicht alleine sein, ich wollte nicht alleine sein. Also stand ich tranceartig auf und lief ins Wohnzimmer zu Jared, der friedlich auf der Couch schlief. Für eine Sekunde überlegte ich mich zu ihm zu legen, aber dazu war die Couch einfach nicht breit genug. Ich wollte ihn aber auch nicht einfach mitten in der Nacht wecken, nur weil ich schlecht geträumt hatte.
Ein Schluchzer verließ meinen Mund, weswegen ich mir eine Hand auf diesem presste, um weitere Schluchzer zu unterdrücken.
Aber was tat ich hier überhaupt? Ich war aufgewühlt, schluchzte laut in der Gegend rum und sah Jared währenddessen beim Schlafen zu.
Auch wenn es mich all meine Selbstbeherrschung kostete, ich weckte ihn nicht, sondern ging einfach zurück ins Schlafzimmer, legte mich wieder ins Bett und versuchte selbst mit den Ängsten klarzukommen, die der Traum wieder in mir hervorgerufen hatte.
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Don't You See?
Teen FictionAverys erstes Jahr am College hat begonnen. Während sich ihre Kommilitonen mit den üblichen Problemen eines Studienanfängers rumschlagen, hat sie ganz andere Sorgen: Logan. Seit zwei Jahren sind die beiden ein Paar, aber plötzlich verändert er sich...