Kapitel 9

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Am nächsten Tag war alles wie zuvor. Jared würdigte mich weiterhin keines Blickes. Das Neue an unserer Situation war jedoch, dass ich ihn nun ebenfalls ignorierte. Ich hatte keine Geduld mehr, mich mit seinen ständig wechselnden Stimmungen auseinanderzusetzen.

Jedoch durchkreuzte unser Professor mein Vorhaben, da das alljährliche semesterübergreifende Projekt unseres Studiengangs anstand. Dieses Jahr sollte jede Gruppe eine Zeitschrift erstellen, in der es um jeden Einzelnen von uns als Person gehen sollte. Unsere Aufgabe war es dabei, sich näher mit uns selbst auseinanderzusetzen. Wir sollten Artikel über uns als Person verfassen, über unsere Fähigkeiten, Stärken, Schwächen und Ängste schreiben und alles, was uns sonst noch einfiel. Dann sollten wir alles so gestalten, dass wir letztendlich eine ansprechende Zeitschrift entworfen haben würden.
Die Professoren, die für das Projekt verantwortlich waren, waren mehr als begeistert von ihrem Einfall. Ich eher weniger.

Ich wollte nicht alle anderen in meine Seele blicken lassen, sie sollten nicht wissen, was in mir vorging. Zumindest meine eigene Gruppe und meine Professoren würden meine Texte dann nämlich zu lesen bekommen.
Noch viel schlimmer wurde diese Vorstellung dann für mich, als wir letztendlich in Dreiergruppen eingeteilt wurden.
Glücklicherweise war Sara das erste Mitglied meiner Gruppe, sodass ich dachte, wer auch immer die zweite Person sein wird, ich werde das schon schaffen. Wie ich mich doch getäuscht hatte.
Natürlich - wie sollte es auch anders sein, das Schicksal war schließlich ein Arsch - war unser drittes Gruppenmitglied Jared.
Sara war ganz aus dem Häuschen, als sie es hörte, quieckte leise auf und umklammerte aufgeregt meinen Arm; und das so fest, dass ich Angst hatte, er könnte abfallen. Meine Freude hielt sich im Gegensatz dazu eher in Grenzen. Auch Jared schien - seinem Gesichtsausdruck nach - nicht begeistert.

"Ich wusste es Avery! Jared und ich gehören zusammen. Es war Schicksal, dass wir in eine Gruppe eingeteilt wurden.", flüsterte mir Sara zu, als Jared uns langsam entgegenschlenderte.
Ich war jedoch mittlerweile zu einer Salzsäule erstarrt und konnte als Antwort nur schwach nicken.

***

"Melde dich dann, wenn ihr fertig seid, ich hole dich ab.", sagte Logan etwas angespannt, als er sich zu mir rüberbeugte und mir einen Kuss gab. Er war nicht glücklich darüber gewesen, als ich ihm erzählt hatte, dass ich ein Projekt mit Jared machen musste. Auch die Tatsache, dass wir es gar nicht nur zu zweit machen sollten, da Sara ja auch in unserer Gruppe war, machte es für ihn nicht besser. Wobei ich ihm das nicht übel nehmen konnte, mir ging es ja genauso.

Ich hatte Logan nicht auf den einen Morgen angesprochen, an dem ich nackt neben ihm aufgewacht war und mich an nichts mehr erinnern konnte. Zum Einen gab es wahrscheinlich eine plausible Erklärung für das alles und zum Anderen hatte ich einfach Angst, dass es ihn wütend machen würde, wenn ich meinen Verdacht laut aussprechen würde.
Also schwieg ich.
Sanft strich mir Logan über mein Kinn, genau an der Stelle, an der er mich zwei Wochen zuvor verletzt hatte.
Mittlerweile erinnerte nur eine blasse weiße Linie an den Vorfall. Seit diesen Tag war er mir gegenüber nichtmehr handgreiflich geworden und ich wollte, dass dieser Zustand für so lange wie nur irgendwie möglich anhielt.
Ich winkte Logan zum Abschied und ging zur Eingangstür von dem Studentenwohnheim, in dem Sara wohnte. Wir hatten uns heute bei ihr verabredet, um mit dem Projekt zu beginnen und schon einmal grundlegende Ideen zu sammeln.

Ich hatte sie darum gebeten, dass Treffen bei ihr zu machen, denn ich wollte nicht zu Jared und an den Morgen erinnert werden, an dem ich bei ihm aufgewacht war. Da ich noch weniger wollte, dass Jared zu mir nach Hause kam, blieb Saras Wohnung die einzig übrige Möglichkeit.
Natürlich war mir klar, dass ich im Laufe des Projektes nicht drumherum kommen würde, irgendwann zu Jared nach Hause zu müssen, aber ich wollte diesen Moment gerne so weit in die Ferne rücken wie nur möglich.

Sara war natürlich sofort dafür, dass wir uns bei ihr treffen würden, da sie ziemlich offensichtlich auf Jared stand und jede sich ihr bietende Möglichkeit nutzen würde - wie es so ziemlich jeder in so einer Situation tun würde - dass Jared zu ihr in die Wohnung kam.

Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich klingelte. Dann wartete ich. Eine Minute. Eine weitere Minute. Ich klingelte erneut. Bis der Türöffner surrte vergingen weitere 29 Atemzüge. Genervt, dass es so lange gedauert hatte, öffnete ich die Eingangstür und ging die Treppe hoch in den zweiten Stock, so wie Sara mir den Weg beschrieben hatte.

An der Tür empfing Sara mich. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab und sie hatte vergessen, einige Knöpfe an ihrer Bluse zuzuknöpfen. Innerlich stöhnte ich auf. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich betete, dass es nicht das war, nach dem es aussah.
Hinter Sara erblickte ich Jared, der gerade aus einem Zimmer kam und dabei war, sein T-Shirt anzuziehen. Er würdigte mich - wie auch schon in der Uni - keines Blickes. Auch seine Haare waren durchwuschelt und ich warf Sara einen genervten ist-das-dein-Ernst-Blick zu. Sie grinste nur entschuldigend und trat einen Schritt zur Seite, damit ich eintreten konnte.

Schnell zog ich meine Schuhe aus und folgte Sara in ihr Zimmer, wie ich vermutete und wir machten es uns alle auf der Couch bequem.
Bevor jemand das Wort ergriff, warf Sara Jared noch einen vielsagenden Blick zu, woraufhin er breit grinste.
Genervt verdrehte ich die Augen und hoffte, dass es nicht bei jedem Treffen so laufen würde.

Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so überflüssig gefühlt, wie in diesem Moment.

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