Kapitel 52

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"Avery?"
Ein sanftes Streicheln an meinem Oberarm weckte mich aus meinem ersten ruhigen Schlaf seit Monaten.
"Wir sind da."
"Hm?", fragte ich nur, da ich noch immer etwas benommen vom Schlafen war. Ich hörte, wie Geld raschelte und kurz darauf war Jareds Wärme an meiner Seite verschwunden. Bevor ich mich fragen konnte, wohin er gegangen war, öffnete sich bereits die Autotür und Jared reichte mir die Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen. Sobald ich neben ihm stand legte er mir wieder seinen Arm um die Taille und wir gingen zusammen zu seiner Wohnung.
Zuvor war ich erst einmal dort gewesen und damals war es fast aus dem selben Grund, wie heute.

"Mach es dir ruhig schon einmal bequem, bin gleich wieder da.", sagte Jared, sobald wir das Wohnzimmer betreten hatten und verschwand dann sofort wieder. Wie in Trance lief ich auf die Couch zu und setzte mich im Schneidersitz hin. Gedankenverloren zupfte ich an meinem Kleid herum und wartete.
Natürlich freute ich mich darüber, dass Jared für mich da war, aber ich hatte Angst vor dem Gespräch, dass wir noch führen werden müssten. Ich würde ihm - wenn tatsächlich irgendwann einmal mehr aus uns beiden werden sollte - früher oder später erzählen, wo ich war und was ich während meiner Abwesenheit getan hatte. Das war ich ihm schuldig, nachdem ich einfach weggelaufen war.


Ich spürte, wie sich sich Couch leicht senkte und sah zu Jared, der sich gerade ein gutes Stück von mir entfernt setzte. Auch wenn ich es nicht gerne zugab, es versetzte mir einen Stich, dass er sich nicht neben mich setzen wollte. Hatte ich vielleicht alles einfach falsch interpretiert?
Jared reichte mir eine Wasserflasche hinüber, aus der ich sofort gierig trank. Mir war bis eben überhaupt nicht bewusst gewesen, dass meine Kehle staubtrocken und ich selbst kurz vor dem Verdursten war. Währenddessen schwiegen wir uns einfach nur an und selbst, als ich den halben Liter Wasser ausgetrunken hatte, sprach keiner von uns ein Wort. 
Die Stille war mir unangenehm und ich hatte das Gefühl, von ihr erdrückt zu werden. Als ich es nicht mehr aushielt, stand ich abrupt auf. Dabei fing plötzlich alles wieder an, sich zu drehen und ich musste kurz die Augen schließen, um gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen.

"Vielleicht sollte ich lieber gehen?" Meine Worte klangen eher wie eine Frage und ich hörte selbst die Verunsicherung in meiner Stimme heraus.
"Nein.", antwortete Jared. Er sagte einfach 'nein'; lediglich dieses eine kleine Wort.
"Nein?", fragte ich irritiert und sah ihm in die Augen.
"Nein.", wiederholte Jared und schüttelte leicht den Kopf.
"O-okay." Noch immer wusste ich nicht, was ich jetzt tun sollte und sah mich hilflos im Raum um.
"Wohnst du alleine hier?" Irgendwas musste ich einfach sagen. Jared wirkte für einen Moment verwirrt, denn das war sicher nicht eine Frage, mit der er gerechnet hätte.
"Nein, eigentlich sind wir zu dritt. John ist aber nur wirklich selten hier und Timmy macht momentan ein Auslandssemester, wird danach aber wieder hier einziehen.", antwortete er dann, während er mir in die Augen sah, ohne den Blick auch nur einmal abzuwenden - geschweige denn auch nur einmal zu blinzeln.
"Okay." Ich wusste in dem Moment nicht, was ich anderes auf seine Worte antworten konnte, auch wenn ich diejenige war, die ihm die Frage gestellt hatte.
Wieder herrschte Stille zwischen uns beiden und vielleicht wäre ich wirklich gegangen, wenn in dem Moment nicht ein stechender Schmerz durch meinen Kopf schoss und der Schwindel wieder einsetzte. Ich verzog mein Gesicht und versuchte das Stechen zu ignorieren, musste mich jedoch wieder auf die Couch setzen, weil ich nicht garantieren konnte, dass ich in der Lage war, noch länger in der Gegend herumzustehen.


"Was war das heute, Avery?" Seine Stimme klang liebevoll und ohne jeglichen Vorwurf. Trotzdem zuckte ich bei seinen Worten leicht zusammen. Fast das selbe hatte er mich auch beim letzten Mal gefragt, als ich hier war. 
Plötzlich hatte ich das Gefühl, seit dem letzten Mal keinen Schritt weiter voran gekommen zu sein. So wenig ich es auch wollte, ich musste mir eingestehen, dass ich immer noch die selbe war: Ich kämpfte mit den gleichen Problemen wie noch vor ein paar Monaten, war immer noch unsicher und naiv. War immer noch das kleine Häufchen Elend, zu dem Logan mich gemacht hatte. Es war keine Option gewesen, einfach zu verschwinden und eine Änderung erzwingen zu wollen. So funktionierte das nun einmal nicht - und das wurde mir schlagartig bewusst.
Ich winkelte meine Beine an und legte meinen Kopf auf meinen Knien ab, bevor ich einige Male tief durchatmete.
"Ich bin so lächerlich, Jared." 
"Wie kommst du auf so etwas?" Ich spürte, wie er sich auf der Couch aufrichtete.
"Sieh mich doch an!", rief ich lauter als beabsichtigt. "Sieh mich an.", wiederholte ich noch einmal leise. "Ich dachte wirklich, wegzulaufen würde alle meine Probleme lösen, dass ich dadurch wieder ganz werden könnte, nachdem Logan mich zerstört hatte."
Jared war mittlerweile so nah an mich herangerückt, dass ich spüren konnte, wie er sich für einen kurzen Moment anspannte und ich war mir sicher, dass er etwas sagen wollte, weswegen ich schnell weiter sprach.
"Aber stattdessen habe ich einfach nur das vollendet, was Logan begonnen hat. Ich habe mir selbst den Rest gegeben. Verdammt, ich fühle mich wie ein bockiges Kind, das unbedingt Aufmerksamkeit wollte. Ich habe dich weggestoßen und verletze alle, die mir auch nur irgendetwas bedeuten."
Mittlerweile konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, aber glücklicherweise konnte Jared mein Gesicht nicht sehen.
"Ich bin so egoistisch. Ich bin dumm, naiv und lasse mich von allem und jedem verunsichern. Und ich-" Mir entfuhr ein lautes Schluchzen, weswegen ich nicht weiterreden konnte. Jared legte seine Hand an meine Wange.
"Sieh mich an, Avery.", flüsterte er sanft. Ich schluchzte erneut und schüttelte heftig den Kopf.
"Ich bin so schwach, Jared. Andere Leute scheinen doch auch mit allem klarzukommen, warum schaffe ich es nicht? I-ich..."
"Bitte, Avery. Sieh mich an.", sagte er, diesmal eindringlicher als zuvor. Als ich seiner Bitte immer noch nicht nachkam, umfasste er mein Kinn und drehte meinen Kopf so, dass ich keine andere Möglichkeit hatte, als ihn anzusehen.
Sein Blick war liebevoll und ich wusste, dass er sich Sorgen machte. Und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, dass er bei meinen Worten litt, dass sie ihm selbst weh taten. Keine Sekunde später hatte er mich in seine Arme geschlossen und hielt mich einfach fest. Er sagte nichts, aber diesmal war die Stille alles andere als bedrückend. Ich fühlte mich wohl bei ihm.


Nach einiger Zeit löste er sich etwas von mir und sorgte erneut dafür, dass ich ihm in die Augen sah.
"Du bist nicht schwach, Avery. Du bist nichts davon, was du eben behauptet hast zu sein. Im Gegenteil, ich bewundere dich für deine Stärke. Du hast so viel erlebt und hast es überstanden. Ich will nicht sagen, dass jede deiner Handlungen sinnvoll oder nachvollziehbar war, aber du bist hier, Avery. Nach allem, was passiert ist, nach allem, was du durchgemacht hast, bist du hier. Du bist stark, Avery, und ganz sicher bist du nicht lächerlich."


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