Jared
Seit fünf Tagen war Avery nun schon wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte etwas von ihr gehört; weder Sara, noch Logan. Ich hatte gehofft, sie würde zumindest in die Uni gehen, aber auch dort tauchte sie nicht auf.
Warum war sie gegangen? Wann würde sie zurück kommen? Und wollte sie überhaupt zurück kommen? Es machte mich wahnsinnig, nicht zu wissen, wo sie sich befand und ob es ihr zumindest gut ging. Ich hatte schon überlegt, sie zu suchen, aber - seien wir mal ehrlich - wo sollte ich anfangen? Mittlerweile war mir klar geworden, dass ich so gut wie nichts über sie wusste und somit hatte ich keinerlei Anhaltspunkte.
Verzweifelt, dass ich nichts tun konnte, fuhr ich mir mit meinen Händen über mein Gesicht. Ich musste etwas tun. Egal, was.
Ich beschloss zu ihrer Wohnung zu fahren, um zu sehen, ob sich dort etwas an der Lage verändert hatte. Inzwischen machte ich mir dabei aber keine großen Hoffnungen mehr, denn ich war in den letzten Tagen mehrmals bei ihrer Wohnung gewesen und jedes Mal stand ich vor einer verschlossenen Tür.
Trotzdem verließ ich meine Wohnung und machte mich auf den Weg.Dass heute etwas anders war, merkte ich direkt, als ich das Treppenhaus betrat. Ich hörte ein unrhythmisches Klopfen und eine Stimme, die ihren Namen rief. Ich beschleunigte meine Schritte und nahm mehrere Stufen gleichzeitig, um schneller oben zu sein.
Vor der Tür stand ein Mann - in etwa Mitte 30. Seine hellbraunen Haare standen in alle möglichen Richtungen ab und ich meinte in seiner Stimme etwas wie Angst zu hören. Aber wer war dieser Mann und warum hatte er Angst um Avery?
Er entdeckte mich und stellte sich gerade auf, bevor er einmal mit der Hand durch seine Haare fuhr und einen Schritt von der Tür wegtrat.
Ich sah, wie sein Mund begann ein Wort zu formen, aber ich war schneller
"Was machen Sie hier? Und wer sind Sie?", sagte ich harsch. Vielleicht etwas zu unfreundlich, aber ich fand es schon komisch, einen fremden Mann vor Averys Tür zu sehen. Obwohl er für sie vielleicht nicht fremd war, sondern mir einfach nur wieder vor Augen geführt wurde, wie wenig ich über ihr Leben wusste.
"Die Frage kann ich nur zurückgeben." Er kam auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. "Ich bin Liam."
Zögernd schüttelte ich seine Hand und stellte mich ebenfalls vor. Ich war ihm gegenüber immer noch etwas skeptisch.
"Weißt du wo Avery ist?", fragte er nach einer kurzen Pause. Ich schüttelte den Kopf.
"Wir wollten uns nämlich vor zwei Tagen treffen und sie ist nicht gekommen. Auf ihrem Handy kann ich sie auch nicht erreichen."
"Was für ein Treffen sollte das denn sein?" Er musterte mich kurz und schüttelte dann kaum merkbar den Kopf. "Das ist nicht relevant."
Ich sah ihm an, dass ich diese Information nicht aus ihm herausbekommen würde, also änderte ich meine Strategie. Vielleicht würde er ja gesprächiger werden, wenn ich ihm zuerst einige Informationen lieferte.
"Ich habe sie zuletzt Dienstagmorgen gesehen. Da war ich bei ihr und habe kurz die Wohnung verlassen. Als ich zurückkam, war sie bereits verschwunden. Ihr Handy hat sie da gelassen."
Liam wirkte überrascht über meine Redefreudigkeit und sein Gesichtsausdruck wurde sofort freundlicher. Dann erstarrte er jedoch und weitete die Augen.
"Ging... ging es Avery gut... am Dienstagmorgen?"
Meine anfängliche Skepsis war zurückgekehrt. Er wusste etwas über sie, das war mir jetzt klar. Sie musste ihm Genaueres erzählt haben, denn sonst hätte er diese Frage nicht gestellt.
Bevor ich antworten konnte, fügte er hinzu: "Ich glaube, das ist nicht der richtige Ort, um das zu besprechen."
Das sah ich allerdings auch so. Also nickte ich und folgte ihm aus dem Haus heraus in ein kleines Café, das sich wenige Straßen weiter befand.
In dem Café war es dunkel, was einerseits an den Möbelstücken lag, die allesamt schwarz waren und andererseits an den schweren Vorhängen, die fast komplett zugezogen waren und somit nahezu kein Sonnenlicht durchließen.
Wir setzten uns an einen Tisch in der hintersten Ecke des Cafés, um ungestört zu sein. Da bis auf uns und ein Pärchen, das sich gegenseitig die Zunge in den Hals steckte, niemand da war, wären wir jedoch auch an jedem beliebigen anderen Platz ungestört gewesen.
Sobald der Kellner, der unsere Getränkebestellung aufgenommen hatte, verschwunden war, stellte ich endlich die Frage, die mir schon seit unserem Aufeinandertreffen auf der Zunge lag.
"Woher kennst du Avery überhaupt? Ich darf doch "Du" sagen?" Er nickte.
"Wir sind... Freunde." Ich merkte, dass er versuchte auszuweichen, also ließ ich nicht locker.
"Geht es vielleicht etwas genauer? Inwiefern Freunde?"
"Ich kann dir nicht mehr dazu sagen. Aber ich weiß Bescheid, über ihren Freund."
"Logan.", ergänzte ich. "Du weißt, was er tut?"
Er nickte. "Ist diese Woche etwas... passiert?"
Ich wusste wirklich nicht, inwiefern ich ihm vertrauen konnte, denn es war für mich wirklich nicht angenehm, über das zu reden, was passiert war. Dabei fühlte ich mich, als würde ich ihre Geheimnisse einem Fremden erzählen und wer weiß, vielleicht bluffte er ja nur und wusste eigentlich nichts. In diesem Fall würde ich ihm gerade alle Informationen auf dem Silbertablett servieren.
Er merkte, dass ich nicht antworten würde - auch wenn mein Schweigen schon genug offenbarte -, also redete er weiter.
"Ich habe sie vor ihm gewarnt. Letzte Woche Donnerstag."
Letzte Woche Donnerstag? Das war der Tag, an dem wir zu dritt bei Sara waren und Avery - bei dem Gedanken daran, wie zerbrechlich sie wirkte und wie hilflos ich mich gefühlt hatte, gefror mir das Blut in den Adern und ich wollte den Gedanken nicht zu Ende denken.
"Ich glaube ich war dabei. Aber soweit ich weiß, hat sie die Warnung ignoriert."
Traurig nickte Liam.
"Logan war eine tickende Zeitbombe, das wusste ich. Ich hätte es verhindern müssen."
In dem Moment wurden unsere Kaffees serviert und ich senkte den Blick, um ihm bei den folgenden Worten nicht in die Augen sehen zu müssen.
"Ich hätte es auch verhindern können. Hätte ich nicht ständig weggesehen."
Sofort keimte wieder diese Wut in mir auf, gepaart mit maßloser Enttäuschung, die ich mir selbst gegenüber empfand. Ich konnte nicht aufhören mir Vorwürfe zu machen und der Gedanke, dass es von gleich zwei Personen hätte verhindert werden können, verstärkte diese Gefühle nur weiter.
In diesem Moment wurde mir klar: Ich brauchte Avery in meinem Leben, mehr als alles andere. Ihre Abwesenheit machte mich verrückt und ließ den Schmerz in meiner Brust immer weiter anschwellen. Darum musste ich sie finden. Und dann würde ich für sie da sein.
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Don't You See?
Genç KurguAverys erstes Jahr am College hat begonnen. Während sich ihre Kommilitonen mit den üblichen Problemen eines Studienanfängers rumschlagen, hat sie ganz andere Sorgen: Logan. Seit zwei Jahren sind die beiden ein Paar, aber plötzlich verändert er sich...