Kapitel 48

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Sara. 

Ihre unverwechselbar selbstgefällige Stimme hätte ich überall erkannt, aber darauf, diese Worte aus ihrem Mund zu hören, war ich nicht vorbereitet, weshalb ich sie mit meinen eigenen Augen vor mir stehen sehen musste, um es richtig zu realisieren.
Etwa einen Meter hinter ihr stand Jared und sah betreten in jede erdenkliche Richtung - außer in meine. Ich war mir nicht sicher, ob ihm Saras Worte an mich einfach nur unangenehm waren oder ob er mich einfach nicht ansehen wollte, da ich so eine große Enttäuschung für ihn war.
Ich antwortete ihr nicht, sondern zog noch einmal an meiner Zigarette, ohne den Blickkontakt zwischen Sara und mir zu beenden. Währenddessen küsste mich Finn einfach weiter, als sei nichts geschehen und schenkte den Beiden keinerlei Beachtung.
"Dabei war dein Leben so perfekt. Du warst eine von denen, die alles hatte. Das perfekte Leben, die perfekten Noten, den perfekten Freund."
Ich hielt die Luft an. 
"Und du wirfst alles einfach weg, wegen einem kleinen Ausrutscher." Sie verstand es wirklich nicht. Und das, obwohl sie anscheinend Bescheid wusste, was passiert war. Mein ganzer Körper verspannte sich bei ihren Worten und ich sah, dass auch Jared sich unwohl fühlte.
Er griff nach ihrem Arm und flüsterte: "Lass uns gehen, Sara. Das ist doch gerade nicht nötig..."
Wütend riss sie ihren Arm aus seinem Griff.
"Oh nein, ich bin noch nicht fertig mit ihr. Weißt du, eigentlich hast du dich nicht verändert, du warst schon immer so, hast es nur nie nach außen hin gezeigt. Vor allem, nachdem du mir Jared ausgespannt hast - ich will gar nicht genau wissen, was ihr alles getan habt. Du warst schon immer eine Schlampe, Avery, und jetzt zeigst du es einfach auch äußerlich."

"Das reicht, wir gehen." Jared sprach jetzt in normaler Stimmlage und griff diesmal fester nach Saras Arm, sodass er es schaffte sie mit sich zu ziehen.
"Sieh dich an! Du hängst mit einem Junkie ab und so wie du aussiehst, bist du wahrscheinlich selbst einer!", schrie sie noch beim Weggehen. 
Ich versuchte cool zu wirken, als würden ihre Worte mich nicht treffen, als wäre mir alles egal. Aber so war es nicht. Ich war geschockt, erschüttert. Dachte Jared das selbe von mir? Wahrscheinlich war es so, immerhin war ich ihm gegenüber bei unserem Zusammentreffen auch nicht wirklich freundlich gewesen. Ich habe versucht, zu zeigen, dass ich stark bin. Mir nicht anmerken zu lassen, wie es wirklich in mir aussah, dass ich immer noch die selbe, kaputte Avery war, wie zwei Monate zuvor.
Ich blickte Sara und Jared nach, während sie weggingen, denn ich hoffte darauf, dass Jared sich noch einmal zu mir umdrehen würde, um mir zu zeigen, dass ich nicht alles zerstört hatte. 
Er tat es nicht.

***

"Babe? Bist du so weit?", fragte Finn durch die geschlossene Badezimmertür. Ich nickte, merkte dann aber, dass er mich nicht sehen konnte.
"Noch drei Minuten!", rief ich. 
Dann griff ich nach dem Lippenstift, der auf dem Rand des Waschbeckens stand und fuhr mir mit dem dunklen Nudeton über die Lippen, bevor ich das Bad verließ.
Auf dem Flur hörte ich wie Finn anerkennend pfiff. "Babe, du siehst mega heiß aus in dem Kleid."
Ich wurde augenblicklich rot und blickte auf den Boden, da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Dabei stach mir die helle, weiße Linie an meinem Arm ins Auge. Ich hasste die Narbe und ich hasste die Tatsache, dass sie so gut sichtbar war. Die Wunde war mittlerweile verheilt, aber die Narbe würde mich ewig daran erinnern.
Schnell wand ich den Blick ab und sah wieder zu Finn, der mich angrinste.
"Ich habe übrigens noch etwas für dich." Er streckte seine Hand zu mir aus und forderte mich still dazu auf, meine Hand zu öffnen. Wenige Sekunden später lag eine quietschgelbe 'Sun' auf meiner Handfläche.
"Falls die Party langweilig wird, habe ich vorgesorgt." Dankbar lächelte ich ihn an und schluckte sie - ohne draufzubeißen - herunter. 
Ich wusste, dass Jared und wahrscheinlich auch Sara auf der Party sein würden und da brauchte ich wirklich etwas Aufheiterung, um sie zu überstehen. Jared und ich hatten uns nun seit zwei Wochen nicht gesehen und ich wusste nicht, wie es werden würde, ihm wieder unter die Augen zu treten. Die meiste Zeit hatte ich mit Finn in meiner Wohnung verbracht, wo er vorübergehend wohnte. Er hatte mir immerhin geholfen, das gröbste Chaos zu beseitigen und ich hatte ihm daraufhin angeboten, dass er fürs Erste in der Wohnung bleiben konnte.
Die Male, die ich mich seit den Präsentationen der Projekte in der Uni blicken lassen hatte, konnte ich an einer Hand abzählen. 

Irgendwie fühlte sich mein ganzes Leben an, als würde es still stehen, denn ich tat nichts Anderes, als mich fast täglich mit Finn zuzudröhnen. Was mir Sorgen bereitete, war jedoch, dass ich nicht wusste, wie lange ich meine Eltern und Sam noch davon abhalten konnte, mich zu besuchen. Ich wollte nicht, dass Sam mich in dem Zustand sah. Er würde mich genau so ansehen wie Jared es tat und das würde ich nicht aushalten. Nicht bei Sam.
Bei dem Gedanken an meinen kleinen Bruder schnürte sich meine Brust zusammen. Wir hatten uns seit fast drei Monaten nicht gesehen. Ich war weder an Weihnachten, noch an Silvester heimgekommen und hielt meine Familie nur durch meine Anrufe davon ab, mich zu besuchen.
"Können wir?", riss Finn mich aus meinen Gedanken.
"Ja. Klar, lass uns gehen."

Obwohl ich mich bei all meinen Gedanken eigentlich elend fühlen sollte, tat ich es nicht, denn ich merkte langsam, wie 'Sun' wirkte - und fand es großartig. 
Finn bezahlte uns beiden den Eintritt für den Club und legte dann seinen Arm um meine Taille, um mit mir hineinzugehen.
Trashige Popmusik dröhnte aus den Lautsprechern und obwohl ich normalerweise bei so einer Songauswahl sofort wieder verschwunden wäre, merkte ich, wie ich sofort in Tanzlaune kam. Eilig zog ich Finn zur Bar und bestellte uns zwei Tequila, die wir sofort tranken. Dann drehte ich mich zur Tanzfläche und wollte gerade wieder Finn mit mir ziehen, um mit ihm zu tanzen, als ich einen allzu vertrauten, blonden Haarschopf in der tanzenden Menge sah. Sofort wandte ich mich wieder zur Bar.
"Nochmal zwei Tequila!", rief ich dem Barkeeper zu.
Um diesen Abend zu überstehen, brauchte ich eindeutig noch mehr Alkohol.


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