Kapitel 50

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"Verdammt, du kleine...", fluchte Logan laut, nachdem ich ihm, anstatt seinen Kuss zu erwidern, auf die Unterlippe gebissen hatte. Und das auch noch so heftig, dass sie angefangen hatte zu bluten und ich für einen Moment den eisernen Geschmack seines Blutes im Mund hatte.
Zuerst sah ich es in seinen Augen: die auflodernde Wut. Keine Sekunde später war sein gesamtes Gesicht wutverzerrt und er hob bedrohlich seine Hand, bis ihm auffiel, dass mir uns inmitten unzähliger Menschen befanden und es nicht schlau wäre, wenn er etwas Unüberlegtes tun würde. In dem Moment drängte sich eine Gruppe zwischen uns vorbei, sodass ich für einen Moment Abstand zu Logan gewinnen konnte. Ich überlegte nicht lange, sondern drehte mich um und versuchte so weit wie möglich von ihm weg zu kommen. 
Das war jedoch einfacher gesagt, als getan. Ich sah durch meinen Tränenschleier alles verschwommen und auf den Beinen war ich auch nicht wirklich sicher. Irgendwie schaffte ich es jedoch, aus der Menschenmenge herauszufinden und lehnte mich erschöpft gegen eine Wand, um meine Gedanken zu sammeln und mich etwas zu beruhigen.

"Alles klar, Avery?", fragte eine besorgte Stimme, die sich nicht allzu weit von meinem Ohr entfernt befand. Erschrocken wandte ich mich um und sah, dass Logan neben mir stand. Er war mir tatsächlich hinterher gelaufen. Sofort war jegliche Ruhe, die ich versucht hatte aufzubauen wieder verschwunden.
"Verschwinde!", rief ich panisch.
"Was ist denn los? Warum weinst du?" Das konnte doch nicht sein Ernst sein? Er wusste genau, was los war.
"Geh weg, Logan!" 
"Logan? Warum Logan? Ich bin es, Finn." Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf und sah wieder zu ihm. Tatsächlich stand Finn vor mir und nicht Logan. Ich hatte mir ihn bloß eingebildet, es war nur eine Halluzination. Diese Tatsache erleichterte mich für einen Moment etwas, aber dann kochte eine nie dagewesene Wut in mir hoch.
"Warum hast du mich alleine mit ihm gelassen? Was hat er dir gesagt, dass du einfach verschwunden bist?", fuhr ich ihn an. Finn war nicht begeistert von meiner Wut und reagierte genervt.
"Wo ist das Problem? Ihr seid doch Freunde?"
"Bist du echt so blöd, Finn?"

Mit diesen Worten ließ ich ihn einfach stehen und arbeitete mich an der Wand entlang weiter, in der Hoffnung irgendwie die Toilette zu finden, um mich dort in einer Kabine einzuschließen, bis die Wirkung der Drogen nachließ und ich mich einigermaßen beruhigt hatte.
Obwohl sich alles drehte und ich alle zwei Meter Halt machen musste, schaffte ich es doch irgendwie anzukommen. Erschöpft stützte ich mich am Waschbecken ab und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah wirklich schrecklich aus. Meine Haare fielen glanzlos und strähnig und unter meinen Augen waren riesige Ringe, die durch meine verlaufene Mascara noch weiter hervorgehoben wurden. Als ich mich ein Stück näher an den Spiegel heran beugen wollte, um zumindest die Mascaraspuren wegzuwischen - was sowieso sinnlos gewesen wäre, da die Tränen einfach nicht aufhören wollten zu fließen - rutschte eine meiner Hände vom Waschbecken ab, sodass ich den Halt verlor und stürzte. Dabei knallte mein Kopf gegen die weißen Fliesen des Bades, weswegen ich einen Moment lang nur Sterne sah. Dieser Zustand hielt jedoch nur kurz an und bis auf ein leichtes Pochen an meiner Schläfe tat es nicht weiter weh. 
Was war nur mit mir passiert? Ich war - wortwörtlich - am Boden und alleine würde ich es niemals schaffen aufzustehen. Nicht in diesem Zustand: betrunken und zugedröhnt. Ich hatte mein Leben weggeworfen, einfach so, ohne mit der Wimper zu zucken. Jared würde nie mehr etwas mit mir zu tun haben wollen und daran war alleine ich Schuld; ich hatte ihn einmal zu oft von mir weggestoßen.

Ich schlang meine zitternden, schwitzigen Arme um meine angewinkelten Beine und legte meinen Kopf auf den Knien ab. Stumm weinte ich weiter, in der Hoffnung, dass in nächster Zeit niemand das Bedürfnis hatte, diese Toilette aufzusuchen und mich hier sitzen sah. Es war einfach so erbärmlich, dass ich auf dem dreckigen Boden unter den Waschbecken saß. Ich habe alle Menschen, die mir wichtig waren von mir weggestoßen. Ich war alleine und auf dem besten Weg, auch noch mich selbst zu zerstören.
Meine Atmung wurde wieder hektisch und ich merkte, wie mein Puls in die Höhe schoss. Durch das unregelmäßige Atmen hatte ich erneut das Gefühl, keine Luft zu bekommen, was meine Panik nur weiter verstärkte.
"Avery!", hörte ich eine Stimme sagen. Es klang nach Finn, möglicherweise aber auch nach Logan. Oder Jared. Ich war einfach nicht in der Lage, die Stimme einer Person zuzuordnen, denn ich wusste, dass mein Gehirn mir erneut einen Streich spielen konnte.
Eilige Schritte kamen auf mich zu und ich spürte eine Hand an meiner Schulter. Erschrocken durch die Berührung schnellte mein Kopf hoch und ich sah, wie Logan neben mir hockte. Immer noch hatte er den wütenden Blick aufgesetzt, dann hob er die Hand langsam, aber bestimmt und ich riss die Augen auf, denn ich konnte ahnen, was mich jetzt erwarten würde. Meine Unterlippe fing nun auch noch an zu beben, was mich unglaublich sauer machte. Ich zeigte ihm so deutlich, dass ich Angst vor ihm hatte und welche Macht er über mich hatte.
Die Hand landete an meiner Wange, wie ich erwartet hatte. Was ich jedoch nicht erwartet hatte war, dass ich keinen Schmerz fühlte, sondern ein sanftes Streicheln. Warum tat er mir das an? Warum spielte er so mit mir und genoss es, mich so hilflos und unterlegen zu sehen?
"Avery.", flüsterte er erneut und sah mir tief in die Augen, während er mit seinem Daumen sanft über meine Unterlippe strich, was eine beruhigende Wirkung auf mich hatte.
"Hast du Angst vor mir?", fragte er und ich konnte deutlich den Schmerz in seiner Stimme raushören.

Da erkannte ich, dass es auf keinen Fall Logan sein konnte, der vor mir hockte. Er wäre niemals in der Lage, dass seine Worte es schafften, dass mein Herz sich so schmerzhaft zusammenzog, wie in diesem Moment.
"Du bist nicht Logan.", stellte ich fest. Nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte merkte ich erst, wie dumm sie klangen und ich wusste auch nicht, ob er mich überhaupt gehört hatte, so leise wie ich sprach; ich konnte mich ja selbst kaum verstehen. Entgegen meiner Erwartungen machte sich die Person aber nicht über mich lustig, sondern antwortete ebenso leise, aber voller Gefühl, sodass der Schmerz in meinem Herzen verblasste und sich eine unvorstellbare Wärme in meiner Brust ausbreitete:
"Nein, Avery. Ich bin nicht Logan."

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