Kapitel 58

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Jared

Ich wusste, ich war nicht fair zu Avery gewesen. Einfach so abzuhauen, nachdem wir uns endlich ausgesprochen hatten und es nichts mehr gab, was zwischen uns stand. Zumindest glaubte ich, dass das der Fall war. Ich war nicht einmal in der Lage sie anzusehen, bevor ich gegangen bin; ich konnte es einfach nicht. 
Nicht, während ich von meinen Schuldgefühlen innerlich aufgefressen wurde. Sie hatte mir vielleicht verziehen, aber ich konnte mir nicht selbst verzeihen. Das würde ich nie können. Trotzdem war ich auf dem besten Weg gewesen, die Vergangenheit zu akzeptieren - zumindest bis heute morgen.
Es war verdammt nochmal alles meine Schuld. Ich hätte es verhindern müssen, denn ich hätte es verhindern können. Den ganzen Schmerz, den sie tagtäglich fühlen musste; den sie immer noch fühlte. Ich musste verschwinden, um einen klaren Kopf zu bekommen, denn was ich gesehen hatte, jagte mir eine höllische Angst ein.

Jedoch haben mich nicht allein meine Schuldgefühle zum Gehen gezwungen, zusätzlich tobte eine unaufhaltsame Wut in mir. Ich musste Logan nochmal zur Rede stellen, denn ich wollte erfahren, wie er überhaupt mit sich selbst leben konnte, ob er zufrieden mit dem war, was er angestellt hatte. Und ich würde höchstpersönlich dafür sorgen, dass er letzten Endes im Gefängnis landen würde. Jemand wie er durfte einfach nicht frei in der Gegend rumlaufen.

Ich steuerte direkt auf Logans Wohnung zu und Erinnerungen an unser letztes Gespräch, das wir hier geführt hatten, beherrschten meine Gedanken. Damals konnte ich mich im letzten Moment zurückhalten, bevor ich vollends die Kontrolle verlor - ich wusste aber nicht, ob es mir wieder gelingen würde. Vor allem nicht, wenn man bedachte, dass er es tatsächlich geschafft hatte, meine Wut auf ihn noch weiter zu steigern. 

Die letzten Meter, bevor ich vor der Haustür stand, bremste ich etwas ab. Erst in dem Moment merkte ich, dass ich den ganzen Weg von meiner Wohnung hierher gerannt war und mein Herz entsprechend schnell schlug. Zugegeben, das lag wahrscheinlich nicht allein an meinem Sprint.
Kurz bevor ich die vier Stufen zum Eingang erreichte, klingelte mein Handy. Ich wusste auch ohne es anzusehen, wer es war. Aber ich konnte jetzt nicht mit ihr reden - noch nicht. Erst einmal musste ich das hier klären. Mit einem stechenden Gefühl in der Brust drückte ich den Anruf weg und steckte das Handy zurück in meine Hosentasche, nachdem ich es ausgeschaltet hatte.

Ich atmete einige Male tief durch, bevor ich die Stufen hoch lief und nach Logans Klingelschild suchte. Irgendwie kam es mir komisch vor, einfach hierher zu kommen und bei seiner Wohnung zu klingeln, fast so als wäre er ein alter Freund von mir, den ich besuchen wollte. Als wäre alles in Ordnung. 
Ich zögerte nicht länger und drückte auf den Knopf. Ein Surren erklang, aber sonst war es still. Ich wartete etwas, bevor ich die Klingel ein zweites Mal betätigte. Wieder regte sich nichts. Misstrauisch wandte ich den Kopf zu den parkenden Autos am Straßenrand. Logans Wagen stand unverkennbar vor dem Haus. Obwohl er nicht wusste, wer klingelte, machte er nicht auf. Wahrscheinlich dachte er, es wäre die Polizei. Er wäre dumm, wenn er es nicht täte, denn es wäre das einzig Richtige, was Avery tun konnte: ihn anzeigen.

Da öffnete sich sie Tür plötzlich von innen und eine kleine, alte Frau mit kurzem, weißem Haar trat heraus und erschrak leicht, als sie mich vor der Tür stehen sah, da sie mich vorher wahrscheinlich nicht bemerkt hatte.
"Willst du rein?", fragte sie mit freundlicher Stimme.
"Ja, das wäre nett. Dankeschön."
Ich wollte bereits an ihr vorbei durch die Tür gehen, als mir auffiel, dass sie sich keinen Zentimeter regte und mich weiterhin anstarrte.
"Alles in Ordnung?", fragte ich verwirrt.
"Selbstverständlich. Ich habe mich nur gefragt, wen du besuchen willst, denn ich habe dich hier noch nie zuvor gesehen - und ich kenne die meisten Personen, die dieses Haus betreten. Immerhin vermiete ich ja auch die Wohnungen, also sollte ich ein Auge auf alles haben."
Ihre Stimme klang immer noch freundlich, aber nun konnte ich auch etwas Misstrauen heraushören. Sie kniff leicht ihre Augen zusammen, während sie mich weiter betrachtete.

Zugegebenermaßen war ich etwas irritiert, von ihrer Neugierde, aber es machte auch keinen Sinn, sie anzulügen. Vor allem, weil mir auf die Schnelle sowieso keine akzeptable Ausrede eingefallen wäre.
"Ich besuche Logan. Wir sind alte Schulfreunde.", erklärte ich also halbwegs wahrheitsgemäß. Sofort schwand der misstrauische Ausdruck aus ihrem Gesicht und sie lächelte leicht, wobei sich kleine Fältchen um ihre Augen bildeten.
"Das ist schön. Er ist ein anständiger Junge, hilft mir manchmal bei Reparaturen, aber ihn kommt kaum jemand besuchen. Außer seine wunderschöne Freundin natürlich. Avery. Ich weiß nicht, ob du sie kennst, aber sie ist wirklich reizend. Sie sind so ein wunderschönes Paar. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, ich habe sie eine Zeit lang nicht mehr hier gesehen, was sehr schade ist..."

Sie konnte ihren Redefluss überhaupt nicht mehr bremsen, aber nachdem sie Avery erwähnt und Logan als anständig bezeichnet hatte, hörte ich ihr sowieso nicht mehr zu. Ich konnte nicht fassen, wie gut er darin war, anderen Menschen etwas vorzuspielen, sie zu täuschen. Denn das beherrschte er tatsächlich perfekt: andere zu blenden.
"Es war wirklich nett, mit Ihnen zu reden, aber ich habe es wirklich eilig.", entschuldigte ich mich bei ihr dafür, sie unterbrochen zu haben und entgegen meiner Erwartung ging sie tatsächlich einen Schritt zur Seite, sodass ich durch die Tür gehen konnte. Während sie nach draußen ging, rief sie mir noch zu, dass ich Logan grüßen sollte. Das würde ich bestimmt tun, aber auf meine Weise.

Erst als ich drinnen war, fiel mir auf, dass ich überhaupt nicht wusste, wo genau sich nun Logans Wohnung befand. Bevor ich mir aber weitere Gedanken darüber machen konnte, hörte ich einen schmerzerfüllten Schrei, der durch das Treppenhaus hallte. Ich zögerte keine Sekunde, sondern lief automatisch in die Richtung, aus der der Schrei kam. 
Lange suchen musste ich nicht, denn immer wieder hörte ich ein Stöhnen oder Schreien, das mir den Weg zeigte. 

Die Tür der Wohnung aus der die Geräusche kamen war nur angelehnt, sodass ich unbemerkt hineinschleichen konnte. Ich folgte dem Geräusch der Schläge durch die Wohnung, bis ich schließlich in der Küche landete, wo Logan vor mir stand. Er starrte wutentbrannt auf den Boden, wo ein Mann kniete und immer wieder vor Schmerz aufstöhnte. Logans Knöchel waren bereits blutig und im Raum sah es in etwa so aus, wie es in Averys Wohnung ausgesehen hatte, als er mit ihr fertig war. 

Da bemerkte Logan mich und es war, als würde er für einen Moment erstarren. Irgendwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. 
Der Mann auf dem Boden nutzte den Moment, in dem Logan abgelenkt war und wandte seinen Kopf zu mir. Obwohl sein eines Auge komplett zugeschwollen war und ihm Blut aus dem Mund lief, erkannte ich ihn sofort.
"Dad?"


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