Kapitel 36

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Jared

Langsam schloss ich die Tür hinter mir; darauf bedacht, leise zu sein, um Avery nicht zu wecken.
Drinnen stellte ich als erstes die Brötchentüte in der Küche ab, bevor ich das Schlafzimmer betrat. Es erschreckte mich immer noch, was Logan hier angestellt hatte. Die komplette Wohnung war verwüstet. Es gab kaum ein unversehrtes Möbelstück, dafür hatte er gesorgt.
Aber noch schlimmer als die Möbel hatte er Avery zugerichtet. Bei dem Gedanken daran, wie ich sie hier aufgefunden habe, gefror mir das Blut in den Adern. Sie wirkte so kraftlos, war blutüberströmt und voller Angst. Ich habe noch niemals so eine Panik in den Augen eines Menschen gesehen, wie in ihren. Aber auch noch nie so eine Erleichterung, wie in dem Moment, als sie erkannte, dass ich es bin und nicht Logan.
Allein seinen Namen auch nur zu denken, ließ meine Wut wieder hochkochen. Sofort ballte ich die Hände zu Fäusten und schloss meine Augen. Ich versuchte kontrolliert zu atmen, damit ich nicht die Kontrolle verlieren würde. Tatsächlich schaffte ich es mich zu beruhigen und ging leise auf das Bett zu.
Da fiel mir erst auf, dass sie überhaupt nicht hier war. Anscheinend war sie doch schon wach.

"Avery?", rief ich, während ich aus dem Zimmer ging.
Keine Antwort.
"Bist du da?"
Nichts.
Wo war sie hingegangen? Ich ließ meinen Blick über den Flur streifen und sah, dass ihre Tasche geöffnet mitten im Raum lag. Stirnrunzelnd ging ich näher heran und durchsuchte sie. Es schien alles da zu sein, bis auf ein Portemonnaie, aber ich wusste ja auch nicht, ob es sich vorher dort drinnen befunden hatte.
Ein Blick über meine Schulter zeigte mir, dass auch ihre Schuhe weg waren. Sie hatte die Wohnung auf jeden Fall verlassen.
Ich beschloss, dass es das Beste wäre, sie anzurufen.
"Geh bitte ran. Geh ran.", murmelte ich leise ins Handy.
Da hörte ich das Klingeln ihres Handys; es kam aus der Küche, wo es auf dem Boden neben der Küchentheke lag. Langsam machte ich mir Sorgen. Sie war verletzt und ging einfach, ohne mir Bescheid zu sagen oder ihr Handy mitzunehmen. Ihr konnte sonst was passieren. Oder sie könnte zu ihm gehen.
Dieser Gedanke versetzte mich in Aufruhr, sodass ich schnell wieder den Wohnungsschlüssel an mich nahm und die Wohnung verließ.

Ich wusste es von Anfang an; ich wusste, dass da etwas nicht stimmt. Als ich sie das erste Mal auf der Party sah und sie so panisch und verwirrt war. Ich hatte die Angst in ihren Augen gesehen - die Angst vor Logan.
Auch als ich sie später in den Vorlesungen gesehen hatte, sah ich immer die Verletzungen, die sie versuchte zu ignorieren. Trotzdem blieb sie bei ihm, und das die ganze Zeit über. 
Hätte ich helfen können? Hätte ich dieses Mal helfen können? Aber wer war ich schon für sie? Wir kannten uns noch nicht lange und deswegen konnte ich nicht einfach zu ihr gehen und in ihre Beziehung reinpfuschen.
Ich konnte nicht wissen, dass meine Vermutung stimmt. Es war nicht meine Schuld, dass es passiert ist, oder? Hätte ich es vielleicht verhindern können?
Ich hätte wissen müssen, dass Logan zu so etwas fähig war. Wir hatten uns seit fast sechs Jahren nicht gesehen, aber ich hatte es ihm angesehen. 
Dieses Lodern in seinen Augen, das er damals schon entwickelt hatte. Dass so eine Erfahrung, wie er sie mit unserem Vater machen musste, nicht einfach spurlos an einem vorbei geht.
Durch ihn war er zu so einem Menschen geworden.
Aber jetzt musste ich erst einmal Avery finden, also lief ich zu dem ersten Ort, der mir einfiel.

"Sara!", schrie ich, während ich wild an ihre Tür klopfte. "Mach die Tür auf!"
Ich konnte ihr aufstöhnen hören und wie sie mit langsamen Schritten zur Tür lief.
"Wie passend, dass du kommst. Mit dir muss ich auch noch reden."
Irritiert sah ich sie an, aber sie ging nicht darauf ein, sondern zeigte mir, dass ich eintreten sollte. 
"Weißt du, wo Avery ist?", sprudelte es dann schon aus mir heraus.
Saras Augen blitzten wütend auf und sie spannte merklich ihren Körper an.
"Warum sollte mich das interessieren?", fragte sie gelangweilt.
"Was?"
"Ach komm, Jared. Ich weiß alles. Ich habe euch beide schon längst durchschaut. Du brauchst jetzt nicht den Dummen zu spielen!", fuhr sie mich an.
"Wo. Ist. Avery?", fragte ich nochmal langsam und versuchte dabei meine aufkeimende Wut unter Kontrolle zu bringen. Avery war möglicherweise in Gefahr und ich musste ihr helfen. Ich hatte keine Zeit für Saras Spielchen.
"Hab sie seit Tagen nicht mehr gesehen.", entgegnete sie schulterzuckend. "Warum willst du das wissen? Damit ihr euch weiter hinter meinem Rücken vergnügen könnt?"
In dem Moment konnte ich meine Wut nicht mehr zurückhalten und Schlug mit meiner Faust mehrmals gegen die Wand, um mich etwas abzuregen.
"Verdammt nochmal, es geht nicht immer um dich!", fuhr ich sie an. Sie wirkte jedoch unbeeindruckt.
"Ach nein? Genauso wenig, wie es Logan anging, dass ihr uns hintergeht?"
Sie hatte doch nicht...?
Ich drückte sie gegen die Wand und schrie:
"Du hast es Logan gesagt? Denkst du überhaupt irgendwann mal nach?"
"Natürlich habe ich es ihm gesagt, vorgestern um genau zu sein. Er darf doch wohl erfahren, was Avery ihm antut. Und dann fleht sie mich noch an, es ihm nicht zu sagen. Lächerlich." 
Es gefiel mir nicht, wie sie Averys Namen ausspuckte, als wäre er hochgiftig.
"Was sie ihm antut?"
Langsam sah es so aus, als würde sie endlich verstehen, dass etwas passiert ist. 
"Was willst du damit sagen?", fragte sie vorsichtig.
"Er hat sie zusammengeschlagen und ihre Wohnung verwüstet. Nur weil du nicht einmal deinen Stolz überwinden konntest. Und jetzt ist sie verschwunden."
Ich wusste, dass es falsch war, Sara diese Vorwürfe zu machen, denn Logan hatte Avery ja auch sonst schon öfter geschlagen. Aber es war nie so schlimm. Zumindest hoffte ich das. 
Saras Gesicht wurde kreidebleich und sie riss ihre Augen weit auf. 
"D-das w-wollte ich nicht, i-ich k-konnte doch nicht w-wissen, dass s-sowas passiert....", stotterte sie vor sich hin.
"Jetzt können wir es sowieso nicht mehr ändern. Aber ich muss sie finden.", unterbrach ich sie. 
"Kennst du Logans Adresse?"
Stumm nickte sie und ging in einem anderen Raum, um mit einem Blatt Papier zurückzukommen, auf dem sich seine Adresse befand. Ich bedankte mich nicht, sondern ging wieder zur Tür und wollte gerade die Wohnung verlassen, als sie mich zurückhielt. Ihrer Stimme nach zu urteilen, schien sie sich mittlerweile wieder einigermaßen von dem Schock erholt zu haben.
"Soll ich mitkommen? Oder kann ich sonst irgendetwas tun?" 
"Nein danke, du schon schon genug getan.", antwortete ich kalt und schlug die Tür mit voller Kraft zu.

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