Ich hatte mich entschieden: Ich würde Sara zur Rede stellen. Sie war die Einzige, die sich bei Professor Simmons beschwert haben könnte; und ich verstand einfach nicht, wieso sie das tun sollte. Wir waren doch Freunde und sowas machte man unter Freunden nicht. Das war einfach falsch und hinterlistig, mich zu verpetzen, ohne vorher wenigstens einmal mit mir über das Problem geredet zu haben.
Während ich über all das nachdachte, wurde ich immer wütender auf sie. Gerade war ich dabei, eine Straße zu überqueren, als ich ein lautes Hupen hörte. Erschrocken blickte ich in die Richtung, aus der das Geräusch kam und sah, wie ein Kleintransporter auf mich zuraste. Reflexartig sprang ich den letzten Meter von der Straße auf den Bürgersteig und wurde vom Fahrer des Wagens angeschrien, ob ich denn keine Augen im Kopf hätte.
Das machte mich nur noch wütender, sodass ich meine Hände zu Fäusten ballte und ihm daraufhin meinen Mittelfinger in die Luft hielt. Er hatte es wahrscheinlich sowieso nicht gesehen, aber es half mir, mich etwas abzuregen.
So ein Idiot. Vielleicht hätte ich schon auf die Straße gucken können, aber nur, wenn er auch nicht 50 km/h in einer 30er Zone fuhr.
Einige Sekunden später wurde mir bewusst, wie sinnlos es von mir war, mich so über den Autofahrer aufzuregen; ich hatte ja ganz andere Sachen zu klären. Also entspannte ich mich wieder und setzte meinen Weg fort.Mein Zeigefinger befand sich schon seit einiger Zeit an Saras Türklingel, aber ich schaffte es einfach nicht, den Knopf zu drücken. Den ganzen Weg hierher hatte ich mich über sie aufgeregt und dabei vergessen zu überlegen, was ich ihr eigentlich sagen wollte. Beziehungsweise, was ich ihr sagen wollte, wusste ich schon. Die Frage war nur wie.
Ich entschied mich letztendlich, einfach das zu sagen, was mir spontan in den Sinn kommt, sobald ich ihr gegenüber stehe.
Sofort betätigte ich die Klingel, bevor ich auf die Idee kam, es mir anders zu überlegen.
Wenige Augenblicke später wurde die Tür bereits geöffnet, aber nur einen Spalt breit.
"Komm schon einmal rein Clara, muss nur kurz was erledigen."
Es schien ganz so, als hätte sie mit jemand anderem gerechnet. Ich hatte aber keine Ahnung, werde diese Clara war. Da sich mir aber nun die Möglichkeit geboten hatte, trat ich ein und zog die Tür leise hinter mir zu.
Ich entschied mich dagegen, meine Schuhe auszuziehen, da ich sowieso nicht vorhatte, lange zu bleiben. Während ich mich dem Zimmer näherte, in dem Sara - allem Anschein nach - gerade telefonierte, versuchte ich so wenige Geräusche wie möglich von mir zu geben."... sollte ich lügen?", zischte sie in den Hörer, wobei sie sich bemühte, nicht allzu laut zu werden. Stille.
"Ich ... selbst gesehen." Mit wem telefonierte sie? Ich trat noch einen Schritt näher an die Tür heran, um mehr von dem Gespräch aufschnappen zu können, auch wenn ich nicht wusste, ob es überhaupt interessant für mich war. Vielleicht telefonierte sie ja auch einfach mit ihrer Mutter.
Was mich jedoch neugierig machte war, dass sie dieses Gespräch unbedingt jetzt führen musste. Außerdem habe ich sie noch nie so aufgeregt gesehen.
"Du musst was tun."
Mit diesen Worten legte sie auf und rief nach Clara. Schnell lief ich wieder zur Eingangstür und tat, als würde ich gerade meine Schuhe ausziehen, damit sie nicht merkte, dass ich sie belauscht hatte.
"Was machst du denn hier, Avery? Und wo ist Clara?", fragte sie erstaunt und ließ ihren Blick kurz durch den Flur streifen. Ich stellte mich wieder aufrecht hin - ohne meine Schuhe ausgezogen zu haben - und sah sie mit dem irritiertesten Blick, den ich hinbekam, an. "Ich habe doch geklingelt.", antwortete ich und tat dabei auf ahnungslos. "Sollte ich wissen, wer Clara ist?"
"Nein. Du kennst sie nicht." Sie wählte ihre Worte knapp und ihre Stimme klang kalt.
Ich nahm an, sie wusste, weshalb ich hier war.
"Aber warum bist du dann reingekommen? Ich habe doch explizit Clara hereingebeten und du hast keinen Widerspruch eingelegt."
"Hast du? Ich hatte meine Kopfhörer auf, habe es wahrscheinlich überhört."
"Ach ja? Und wo sind deine Kopfhörer?"
Oh.
"Ähm... ok du hast mich. Aber du weißt wahrscheinlich genau, weshalb ich hier bin."
Sara sah mich weiterhin äußerst desinteressiert an, nickte aber.
"Würdest du mir dann bitte erklären, was das sollte? Der Prof hat mich vom Projekt abgezogen." So langsam keimte meine Wut wieder auf.
Sara hingegen zuckte nur leicht mit ihren Schultern. "Du hast keinen Beitrag geleistet. Ich kann mir doch nicht deswegen meine Note versauen lassen.", antwortete sie unschuldig.
"Und du kamst nicht auf die Idee, vorher mit mir zu reden?" Ich war fassungslos, dass ihr das alles so gleichgültig war.
"Ich dachte nicht, dass dich das Projekt überhaupt interessieren würde; immerhin warst du nur bei einem Treffen. Anscheinend hattest du Besseres zu tun."
Ich wünschte, ich hätte nichts Besseres zu tun gehabt. Aber sie konnte ja nicht wissen, wie es in mir aussah, denn ich habe ihr nie etwas von meinem Leben erzählt. Nur das Nötigste.
"Ich dachte, wir wären Freunde. Zählt das für dich nicht als Grund?"
"Ach komm, tu nicht so."
"Wie meinst du das denn jetzt schon wieder?"
"Ich glaube das weißt du ganz genau. Oder knutschst du mit allen Partnern deiner Freunde rum?"
Geschockt riss ich meine Augen auf und sog scharf Luft in meine Lunge. Ich hätte es wissen müssen. War ich wirklich so naiv zu glauben, dass das Geräusch, das wir gehört hatten, aus einer anderen Wohnung kam?
Dafür konnte ich mich wirklich gerade selbst ohrfeigen.
"N-nein. Wir haben uns geküsst - ja. Aber das würde nie wieder passieren. Glaub mir."
"Du bist so heuchlerisch. Lebst in der glitzernden Traumwelt und alle lieben dich. Die kleine, unschuldige Avery Grimes. Ich wusste schon von Anfang an, dass du ein Auge auf meinen Freund geworfen hast. Du hast mir mein Glück nie gegönnt und wolltest mir Jared schon seit dem ersten Tag ausspannen. Auch bevor wir zusammen waren, hast du dich nie für das interessiert, was ich dir über ihn erzählt habe. Immer saßt du nur da und hast in die Luft gestarrt."
"Wie denn auch? Du warst zu beschäftigt damit, über dich selbst zu reden. Die einzige Sache, der du je deine Aufmerksamkeit geschenkt hast und jemals schenken wirst, bist du selbst, Sara!"
Unsere Stimmen wurden immer lauter und mittlerweile waren wir schon an dem Punkt angelangt, dass ich mich fragte, ob vielleicht gleich ein Nachbar nachsehen wollen würde, wer hier das ganze Haus zusammen schrie.
"Raus hier!", kreischte Sara. "Und komm nicht auf die Idee, dich hier jemals wieder blicken zu lassen!"
"Mit größtem Vergnügen.", ich knickste leicht und machte eine ausladende Armbewegung, während ich sie mit einem falschen Lächeln ansah.
Kurz bevor ich dich Tür zuschmettern wollte, drehte ich mich noch einmal um und trat wieder in die Wohnung, wo Sara immer noch an der selben Stelle im Flur stand und mich hasserfüllt ansah."Und weißt du was Sara?" Ich machte eine Pause und setzte mein schönstes Lächeln auf.
"Ich weiß zwar nicht, warum Jared mit dir zusammen ist. Aber daran, dass er dich mag - oder gar liebt -, liegt es auf jeden Fall nicht."
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Don't You See?
Ficção AdolescenteAverys erstes Jahr am College hat begonnen. Während sich ihre Kommilitonen mit den üblichen Problemen eines Studienanfängers rumschlagen, hat sie ganz andere Sorgen: Logan. Seit zwei Jahren sind die beiden ein Paar, aber plötzlich verändert er sich...