Kapitel 35

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6 Jahre zuvor

Es klingelte an der Tür. Zunächst nur zweimal kurz, dann aber im Sturm. 
"Verdammt, kann einer von euch mal aufmachen?", schrie mein Vater, der mit uns im Wohnzimmer saß. Er war gerade dabei seine Zeitung zu lesen und Jared und ich wussten genau, dass wir ihn dabei auf keinen Fall stören durften. Wir warfen uns gegenseitig einen Blick zu, um zu besprechen, wer zur Tür gehen sollte. Zumindest hatten wir das früher immer so gemacht. Jetzt sah ich schnell weg, nachdem wir kurz Augenkontakt hatten und stand auf, um zur Tür zu gehen.
Ich konnte ihm einfach nicht in die Augen sehen. Es ging nicht. Er lebte seine wunderschönen Leben; und was war mit mir? Immer musste ich Angst haben, nach Hause zu kommen. Mittlerweile hatte ich mich - so traurig es klingen mag - daran gewöhnt und ließ es einfach über mich ergehen.

An der Tür angekommen setzte ich schnell ein Lächeln auf, wie unser Vater es uns immer eingetrichtert hat. Er meinte, es sei besser, wenn man Leute, die man nicht kennt, beim ersten Kontakt anlächelt, um netter zu wirken. Seine Worte hallen mir immer noch im Kopf wider: 'Alles, was hier passiert, bleibt auch hier.' Das war sein Motto.

Vor der Tür stand eine etwas dickere Frau mit kinnlangen Locken und einer halbmondförmigen Brille auf der Nase. Ein Stück weiter hinter ihr waren eine weitere Frau und ein Mann in einer Polizeiuniform. 
"Hallo, junger Mann. Ist dein Vater zu Hause?"
Die Frau lächelte, aber ich sah ihr an, dass ihr Lächeln genauso echt war, wie meins. 
"Natürlich.", antwortete ich und schrie ins Haus: "Papa, ist für dich!"
Ich konnte von meiner Position aus hören, wie er fluchte, während er sich zur Tür bewegte. Selbstsicher ging er zur Tür, erstarrte dann jedoch in der Bewegung. Dann ging alles ganz schnell und die beiden Polizisten stürmten ins Haus.
"Rea Hoffman, wir nehmen sie wegen Kindesmisshandlung fest! Sie haben das ..."
Mehr bekam ich nicht mit, da die Situation ließ mich erstarren ließ. Also beobachtete ich einfach nur das Geschehen.
Ein rundes Gesicht schob sich vor meins und lächelte. 
"So, Logan. Du und Jared kommt mit mir. Ich bin vom Jugendamt und ich werde dafür sorgen, dass ihr ein schönes neues Zuhause erhaltet. Nennt mich einfach Anne."
"A-aber w-woher ...?", stotterte ich.
"Keine Sorge, ich werde euch gleich alles erklären."

***

Als ich aufwachte, fühlte ich mich so ausgelaugt, als hätte ich seit Wochen nicht geschlafen. Ich konnte jede einzelne Verletzung spüren, die Logan mir zugefügt hatte und mein Kopf hörte einfach nicht auf zu dröhnen. Als ich mich wieder an gestern Abend erinnerte, warf ich einen kurzen Blick zur Seite, dorthin, wo Jared lag. Er war nicht mehr da. 
Auch, wenn ich es eigentlich nicht zulassen wollte, spürte ich einen kleinen Stich in meinem Herzen. Ich dachte, er würde bis zum Morgen bleiben.
Da fiel mein Blick auf einen gefalteten Zettel, der neben mir auf dem Bett lag. Erleichtert nahm ich ihn und begann zu lesen.

Bin bald wieder da. Ich muss noch etwas Dringendes erledigen.
Jared.

Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr und runzelte die Stirn. Es war erst kurz nach 9 Uhr, was bedeutete, ich hatte keine vier Stunden geschlafen. Das erklärte, warum ich mich so fühlte. Aber was hatte Jared so Wichtiges zu tun, dass er einfach verschwand?
Ich versuchte nicht weiter zu grübeln, da das meine Kopfschmerzen nur noch mehr verstärkte und beschloss, ins Bad zu gehen. 
Was ich im Spiegel sah, ließ mich kurz zusammenzucken. 
Meine Augen waren stark gerötet und ich hatte dunkelblaue Augenringe, die aus meinem leichenblassen Gesicht hervorstachen. An meiner aufgeplatzten Lippe befand sich noch etwas getrocknetes Blut; genau wie an den anderen Verletzungen, die sich über mein restliches Gesicht verteilten. Ich fühlte mich wie ein Farbkasten, da die Wunden in allen möglichen Tönen leuchteten. Unter normalen Umständen, hätte ich über so einen Gedankengang geschmunzelt, aber mir war gerade eher nach weinen zumute.
Sofort machte ich den Wasserhahn an und wusch mein Gesicht. Ich wollte nicht so aussehen und auch, wenn ich wusste, dass es nichts bringen würde, versuchte ich all die Wunden abzuschrubben. Das verursachte jedoch nur, dass sie noch mehr weh taten, als vorher. 
Angeekelt von meinem Körper zog ich meine Klamotten aus und setzte mich in die Dusche, denn ich wollte jede Berührung zwischen Logan und mir von meinem Körper waschen, jeden Kuss, jede Erinnerung.
Das kalte Wasser prasselte auf mich herab, während ich mich angewinkelten Beinen einfach auf dem Duschenboden saß. 

Wie hatte es nur so weit kommen können? Ich hätte dem ganzen schon längst ein Ende bereiten können, aber hatte es nicht getan. Und jetzt? Ich fühlte mich tot und dreckig. Immer war ich die naive Avery, die es allen recht machen wollte. Mir war es immer so wichtig, was andere von mir hielten. Ich habe immer versucht, jeden Streit zu schlichten, bevor er überhaupt begonnen hatte. 
Und darum hatte ich ihm immer und immer wieder verziehen. Ich wollte das Gute im Menschen sehen und einfach nicht wahrhaben, dass sich ein Mensch, den man meint zu kennen, plötzlich als jemand ganz anderer entpuppt, als man dachte. In gewisser Weise hatte Logan mir die Augen geöffnet. Ich wollte nicht mehr diese Avery sein. Die einen Held brauchte, der sie rettete. Die sich von allen rumschubsen ließ, um es den Anderen recht zu machen und dabei in Kauf nehmen, dass es sie innerlich zerstörte.
Dass ich mich selbst zerstörte.
Meine Atmung ging immer schneller und ich stellte das Wasser ab. Nein, ich wollte nichts mehr davon sein. 

Ich verließ das Bad und zog mir neue Klamotten an. Dann nahm ich einen Rucksack und packte das Nötigste ein: Wechselklamotten, einige Hygieneartikel und etwas zu Essen. Ich schnappte mir meine Jacke und Schuhe, bevor ich im Flur kurz inne hielt. Wenn ich das jetzt tatsächlich durchzog, gab es kein Zurück mehr. Die alte Avery würde es dann nicht mehr geben.
Aber eigentlich hatte ich meine Entscheidung schon längst gefällt. 

Ich ließ meinen Blick ein letztes Mal über die Wohnung schweifen, die immer noch vor mir in Trümmern lag, genau wie das Leben, vor dem ich floh.
Entschlossen nickte ich einmal, um mir selbst zuzureden, dass es das Richtige sei. Ich nahm noch mein Portemonnaie in die Hand und schaute nach, ob das Geld fürs Erste reichen würde. Mein Handy nahm ich nicht mit, denn wenn ich ging, musste ich einen harten Schlussstrich ziehen.


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