Kapitel 60

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Jared

Als ich mich von unserem Vater abwandte und wieder zu Logan sah, blickte er einfach mit leeren Augen in die Ferne. Sein Gesicht war tränenüberströmt und er hielt sich mit aller Kraft an der Küchentheke fest, aber ich konnte ihm ansehen, dass er kurz davor war zusammenzubrechen. Er atmete unkontrolliert und sein gesamter Körper bebte. 
Ich wusste, dass es nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sein konnte, wie unser Vater ihn behandelt hatte, aber da Logan seine Gefühl nie offen gezeigt hatte, war ich trotzdem überrascht, wie kaputt er wirklich war.

Mit wenigen Schritten war ich bei ihm und schloss meine Arme um seinen zitternden Körper, der genau in diesem Moment zu fallen drohte. Er versteifte sich bei meiner Berührung und hob zunächst abwehrend die Hände, um mich von sich wegzudrücken. Dann entschied er sich jedoch anders und umarmte mich ebenfalls. Es tat mir weh, ihn so zu sehen, wie er sich krampfhaft an mich drückte, um irgendeinen Halt zu finden und immer wieder leise Schluchzer von sich gab. Als ich jünger war, konnte ich ihn nicht vor unserem Vater beschützen, aber jetzt konnte ich es. Endlich konnte ich meinen kleinen Bruder beschützen.

"Danke.", flüsterte Logan nach einer Weile, in der wir einfach nur schweigend da standen. "Das hättest du nicht tun müssen."
"Natürlich musste ich es tun, es war schon längst überfällig."
Logan ließ von mir ab, aber blieb weiterhin genau vor mir stehen.
"Du solltest nicht hier sein, Jared. Du musst zu Avery, sie braucht dich mehr als ich, nach dem was ich... verdammt." Seine Stimme brach wieder und ich merkte, wie er gegen die Tränen ankämpfte.
Bevor ich etwas tun konnte, sank er zu Boden und fuhr sich einmal mit seinen Händen über sein Gesicht.
"Ich habe mich nicht unter Kontrolle, Jared. Ich bin ein Monster und das weißt du auch. Du solltest wirklich nicht hier sein."

Ich konnte einfach nicht mehr sauer sein. Es funktionierte einfach nicht. Was er Avery angetan hatte, war unverzeihlich und man konnte es auch nicht irgendwie schön reden, aber endlich hinter seine Fassade sehen zu können, zu wissen, wie es ihm wirklich ging, ließ mich ebenfalls klarer sehen. Er brauchte Hilfe und ich wusste genau, dass wenn ich ihm nicht half, es niemand tat.
"Du bist mein Bruder, Logan und ich lasse dich bestimmt nicht in dieser Verfassung alleine. Ich werde dich nicht mehr alleine lassen. Nicht noch einmal."

Ich setzte mich genau vor ihn auf den Boden und er sah mich erstaunt an. Der Schmerz, den er fühlte, war deutlich in seinem Gesicht zu sehen. Aber da war noch mehr als das: Erleichterung. Er wollte nicht, dass ich ging, hatte aber Angst, dass ich es tun würde.
"Ich habe Avery wirklich geliebt, ich tue es immer noch, aber ich will euch nicht im Weg stehen, denn sie hat etwas Besseres verdient, als mich. Du bist der Richtige für sie."
Als er ihren Namen erneut erwähnte, musste ich wieder an meine Entdeckung die meine damit verbundene Vermutung vom Morgen denken, schob den Gedanken aber fürs Erste wieder zur Seite.
"Nachdem ich erfahren habe, dass seine Haftstrafe verkürzt wurde und er wieder draußen ist, da kam alles wieder. Vorher konnte ich verdrängen, was passiert war, aber als ich es gehört habe, da sind meine Sicherungen durchgebrannt. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich habe alles kaputt gemacht."

Ich legte ihm meine Hand aufs Knie, damit er weiterredete. Es war gut, dass er seine Gedanken aussprechen wollte, anstatt alles immer nur in sich hineinzufressen. 
"Und ich habe mich jedes verdammte Mal, als ich ihr etwas angetan habe, selbst gehasst. Jedes Mal, wollte ich es wieder gut machen und es tat mir auch unendlich leid, aber ich konnte meine Wut nicht kontrollieren. Ich kann es auch jetzt nicht; möglicherweise werde ich es niemals können. Sobald ich an ihn gedacht, kam alles wieder, jedes Mal wurden die alten Wunden aufs Neue aufgerissen. Und Avery war einfach immer um mich herum, es hätte sie niemals treffen dürfen."

"Und wie geht es dir jetzt?", fragte ich leise. 
"Mein Therapeut sagt, es würde besser werden. Aber das tut es nicht, es wird weder einfacher noch wird es besser."
"Ab jetzt wird es aber besser, Logan."
Irritiert hob er den Kopf und sah mich fragend an, also sprach ich weiter.
"Es wird besser, weil du jetzt nicht mehr alleine bist. Du musst nicht mehr allein kämpfen. Ich werde für dich da sein und wir stehen das gemeinsam durch. Du bist nicht mehr allein, ist das klar?"

Schnell wandte er den Blick ab und senkte seinen Kopf wieder. Seine Schultern hoben und senkten sich ungleichmäßig. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich jemals wieder etwas mit ihm zu tun haben wollen würde, aber so war es. Ich wollte ihm wirklich helfen, dass er ohne diese Wut leben konnte, die ihn innerlich zerstörte.
"Du musst das nicht...", wollte er mir bereits widersprechen, aber ich unterbrach ihn sofort.
"Ich werde nicht gehen. Du kannst mich von dir stoßen, aber ich werde bleiben."
Nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, zog Logan mich in eine feste Umarmung. Als er wieder von mir abließ, deutete ich mit meinem Kopf auf unseren Vater.
"Aber erstmal, sorgen wir dafür, dass dieser Mistkerl von hier verschwindet."

***

Avery

Es wurde bereits Abend und immer noch hatte ich kein Lebenszeichen von Jared erhalten. Ich habe nur ein weiteres Mal versucht, ihn anzurufen, weil ich mir Sorgen um ihn machte, aber wie erwartet war sein Handy immer noch ausgeschaltet.
Mittlerweile lag ich in meinem Bett und starrte einfach die Decke an. Ich wusste immer noch nicht, weshalb er am Morgen so plötzlich verschwunden war und warum er mich ignoriert hatte. Möglicherweise sollte ich auch gar nicht darauf hoffen, dass er wieder auf mich zukam, denn ich hatte wirklich keine Ahnung was überhaupt los war.

Gerade als ich eingeschlafen bin, ertönte plötzlich die Türklingel. Der Blick auf mein Handy zeigte mir, dass wir kurz nach ein Uhr morgens hatten. Obwohl ich todmüde war und man meine Augenringe sogar bestimmt im Dunkeln nicht übersehen konnte, tapste ich gähnend zur Tür und öffnete sie. 
Draußen stand Jared und sah mich entschuldigend an, während ich versuchte, ein erneutes Gähnen zu unterdrücken.
"Darf ich reinkommen?", fragte er, als würde er tatsächlich erwarten, dass die Möglichkeit bestünde, ich könnte 'Nein' sagen.
"Klar." 
Ich trat einen Schritt zur Seite, sodass er eintreten konnte. 

Ich konnte selbst nicht fassen, wie müde ich war, aber der Tag war einfach mehr als nur anstrengend. Um irgendwie wach zu bleiben, rieb ich mir mit meinen Händen über das Gesicht, aber das half so gut wie gar nicht.
"Hab ich dich geweckt?", fragte Jared leise.
"Natürlich hast du mich geweckt!", zischte ich ihn an, schloss dann jedoch sofort erschrocken meinen Mund und sah Jared mit großen Augen an. Ich wollte ihn wirklich nicht anmeckern, aber ich war einfach zu müde, um entspannt zu reagieren - vor allem, wenn er so eine dämliche Frage stellte.

Ohne auf ihn zu achten ging ich wieder zu meinem Bett und legte mich hin, da ich befürchtete, sonst im Stehen einzuschlafen. Unschlüssig blieb er im Türrahmen stehen, als wüsste er nicht, ob er eintreten durfte oder nicht.
"Hör mal Jared, ich bin echt wirklich müde. Also bitte, leg dich einfach hin oder tu sonst was, aber steh nicht so im Türrahmen rum und starr mich an, denn das macht mich wirklich ziemlich nervös. Wir können morgen reden." Meine Augen hatte ich bereits geschlossen, während ich redete, aber trotzdem spürte ich, wie sich die Matratze wenige Sekunden später unter Jareds Gewicht senkte.


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