Kapitel 54

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Ich versuchte einzuschlafen, aber es ging einfach nicht. Der Traum hatte mich mehr aufgewühlt, als ich mir vorher eingestanden hatte. Was wäre passiert, wenn es tatsächlich Logan gewesen wäre, der mich auf der Party gefunden hätte und nicht Jared? Ich wusste nicht, was Logan plante, aber es schien, als könnte er mich noch nicht loslassen - und das machte mir höllische Angst.
Mein Körper begann wieder zu zittern, weswegen ich mich noch etwas mehr in die Decke einkuschelte. Ich konnte noch nicht einmal sagen, ob ich in diesem Moment wirklich weinte oder nicht, doch meine Wangen waren nach wie vor nass. Jedes Mal, wenn meine Gedanken zu Logan schweiften, schluchzte ich laut auf. Ich konnte nichts dagegen tun. Um Jared nicht zu wecken, versuchte ich deswegen dabei jedes Mal mein Gesicht aufs Kissen zu drücken, um die Geräusche zu dämpfen. Es wäre mir einfach nicht wohl dabei gewesen, wenn er wegen mir nicht schlafen können würde, nur weil ich wie ein kleiner, ängstlicher Welpe wimmerte.
Kurz nachdem ich ins Wohnzimmer gegangen war, hatte ich gemerkt, dass mein Körper nach einer Zigarette geschrien hatte, aber ich sträubte mich dagegen, dem Drang nachzugehen - auch wenn ich sowieso keine da gehabt hätte.
Ich hatte wirklich genug davon, mich weiterhin wie ein pubertierendes Kind aufzuführen und konnte meinen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen. Denn die Person, die mir da entgegensah, war nicht ich. Es war keine Lösung, meine Probleme ständig woanders hinzuschieben.
Vielleicht musste ich mich überhaupt nicht ändern, um stark zu sein.

Ein sanftes Streicheln an meiner Schläfe ließ meinen Atem für einen Moment stocken.
"Was ist los?", fragte Jared leise. Ich schlug meine Augen auf und sah, dass er genau vor meinem Gesicht auf der Bettkante saß.
"Warum bist du wach?", wich ich seiner Frage aus.
"Du hast geweint, davon bin ich aufgewacht."
"Oh, tut mir leid.", entschuldigte ich mich kleinlaut.
"Warum entschuldigst du dich dafür?" Er schüttelte kaum merkbar den Kopf. "Aber zurück zu meiner Frage: Was ist los?"
"Nichts, alles okay." Er runzelte die Stirn und sah mich traurig an.
"Ich dachte, darüber wären wir mittlerweile schon hinaus. Ich sehe doch, dass nichts okay ist. Aber ich kann dir nur helfen, wenn du mit mir redest."
"Ich komme schon irgendwie damit zurecht. Wahrscheinlich habe ich wieder nur überreagiert."
"Und deswegen wolltest du vorhin zu mir kommen? Weil du alleine damit zurecht kommst?"
Sofort schoss mir das Blut in den Kopf und ich war sehr dankbar dafür, dass es in dem Raum zu dunkel für ihn war, um meinen roten Kopf zu sehen. Er war vorhin wach gewesen, als ich im Wohnzimmer war und hatte mitbekommen, wie ich ihn angeschluchzt hatte. Es war mir so peinlich, dass ich versuchen wollte, den Kopf anzuwenden, aber Jared ließ das nicht zu, indem er mein Kinn berührte und mein Gesicht wieder zu sich drehte, sodass er mich somit zwang ihn anzusehen.
"Oh nein, du verschließt dich nicht schon wieder vor mir." Ich sah ihn einfach nur an. "Bitte, sprich mit mir.", flehte er schon fast.
"Ich will dich nicht mit meinen Problemen nerven.", nuschelte ich leise, in der Hoffnung, er würde mich nicht verstehen. Er wirkte für einen Moment irritiert, dann schien es, als hätte er irgendetwas begriffen, was er sich zuvor nicht erklären konnte und sein Blick wurde noch viel weicher als zuvor.

"Du denkst du nervst mich? Dass deine Sorgen mich nicht interessieren würden?" Etwas nervös fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare.
"Du verstehst es wirklich nicht, oder?", fragte er dann. Ich schüttelte nur mit dem Kopf, denn ich hatte wirklich keine Ahnung, wovon er gerade sprach.
"Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen um dich gemacht habe, als du plötzlich verschwunden warst? Ich hatte solche Angst um dich. Und als du wieder da warst, warst du wie ausgewechselt. Ich habe dich überhaupt nicht wieder erkannt und es tat mir weh, dass du nach allem scheinbar nichts mit mir zu tun haben wolltest. Dass du nicht meine Hilfe haben wolltest, als es dir schlecht ging."
"Aber vorhin, da wolltest du unbedingt auf der Couch schlafen und..."
"Ich wollte auf der Couch schlafen, weil ich dir Freiraum lassen wollte. Ich wollte dich nicht bedrängen, nicht nachdem du Logan wiedersehen musstest, denn ich weiß, was du für eine Angst vor ihm hast, Avery. An dem Tag, als..."
Bei der Erinnerung daran zuckte ich zusammen. Er bemerkte es und sein Blick wirkte kurz etwas gequält.
"...naja, du weißt schon. Als ich dann zu dir gefahren und dich gefunden habe, da sahst du so verängstigt aus. Es hat mir das Herz gebrochen, dich so zu sehen und ich musste mich wirklich zusammenreißen, nicht zu Logan zu fahren und-" Er stockte mitten im Satz und ich wusste, dass er nicht vorhatte ihn zu Ende zu führen; bei der Wut, die er alleine bei dem Gedanken an Logan verspürte. Automatisch legte ich meine Hand auf seine, die er auf der Matratze abgelegt hatte und fuhr mit meinem Daumen über seinen Handrücken.

"Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht. Ich hätte es verhindern können; ich habe es immer geahnt, was Logan dir antut - und ich habe nichts unternommen. Du hättest das alles überhaupt nicht durchstehen müssen." Der Schmerz in seiner Stimme sorgte dafür, dass sich meine Brust schmerzhaft zusammenzog.
"Du hast damit nichts zu tun. Woher hättest du es denn wissen sollen? Du bist nicht dafür verantwortlich." Ich meinte es auch genauso, wie ich es sagte. Ihn traf keine Schuld - und wäre das alles nicht geschehen, würden wir nicht zusammen hier sitzen.
"Ich wusste zu was er in der Lage war. Er ist mein Bruder. Adoptivbruder."
Erschrocken riss ich meine Augen auf; nicht in der Lage dazu, irgendetwas zu antworten. Trotzdem hielt ich weiterhin seine Hand fest, um ihn zum Weiterreden zu bewegen.
"Seine Eltern haben mich vor seiner Geburt adoptiert - sie dachten, sie könnten keine Kinder bekommen. Als unsere Mum dann starb, war Dad wie ausgewechselt. Er begann zu trinken und schlug Logan - mir hatte er nie etwas angetan. Ich denke, er hatte es getan, weil Logan seiner Mum so unglaublich ähnlich sah, dass Dad sie immer in ihm gesehen hatte. Damals hatte ich mich immer versteckt, ich hatte Angst, er würde mich auch anfangen zu schlagen. Ich habe ihn im Stich gelassen. Jahre nachdem es angefangen hatte, bekam das Jugendamt irgendwie etwas mit und Logan und ich wurden in unterschiedliche Heime gesteckt. Ab da hatten wir uns nie wieder gesehen. Bis jetzt."
"Du weißt aber, dass du nicht dafür verantwortlich bist, oder? Ich meine, du warst doch selbst noch ein Kind. Vielleicht neun? Zehn?"
"Sechs, als es anfing."
Ich konnte einfach nicht glauben, dass er sich deswegen schuldig fühlte; er hätte rein gar nichts dagegen tun können.
"Sechs.", wiederholte ich ungläubig. "Das ist einfach schrecklich."

"Also, erzählst du mir jetzt, was los ist?" Mir war klar, dass Jared ablenkte, um nicht weiter über seine Kindheit reden zu müssen und respektierte diesen Wunsch. Ich rückte auf dem Bett ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er folgte meiner stummen Einladung und legte sich neben mich, wobei er unsere Finger ineinander verschränkte.

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