Kapitel 1

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»Okay, du packst das. Tief einatmen – und ausatmen. Ein – aus – ein – aus«, versuchte ich mir Mut zuzusprechen.
Ich spürte, wie sich meine Brust immer wieder langsam zittrig hob und senkte. Meine Lippen bebten und ich versuchte sie mit Mühe unter Kontrolle zu bringen, jedoch vergeblich. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, während ich einfach so da stand und mit geschlossenen Augen meine Atemzüge zählte.
Es fühlte sich an, als wäre die Welt stehen geblieben und wartete nur darauf, dass ich endlich die Augen öffnete, damit sie sich weiterdrehen konnte. Auch das plötzliche Klingeln an der Tür verleitete mich nicht dazu, meine Augen zu öffnen.

Ich hatte Angst vor ihm, das konnte ich nicht leugnen. Aber ich wusste, das was gestern passiert war, wollte er nicht tun. Das war nicht er. Ich musste mich einfach zusammenreißen und alles würde wieder gut werden.
»Avery!«
Beim Klang seiner tiefen Stimme zuckte ich zusammen und riss erschrocken die Augen auf. Ich stand vor meinem Spiegel und blickte mich an. Meine dunkelbraunen, welligen Haare wirkten plötzlich glanzlos, meine blauen Augen blickten mir leer entgegen und meine Augenringe strahlten in einem kräftigen Violett. Wie bezaubernd ich doch aussah. Für eine Millisekunde zuckten meine Mundwinkel leicht nach oben, als mir die Ironie der Situation bewusst wurde.

»Komm schon Avy, wir müssen echt langsam los!«
Diesmal erschreckte ich mich nicht, da mir bewusst war, dass seit dem Klingeln bereits einige Minuten vergangen waren und Logan nicht gerne wartete. Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich mich schließlich zur Tür wandte und mit meiner Hand den eiskalten Türgriff nach unten drückte. Sobald ich die Tür einen Millimeter weit geöffnet hatte, flog sie bereits in einem Schwung auf und Logan stürmte herein.

»Wir sind echt spät dran Avery, worauf hast du denn eben so lange gewa-«
Er stockte mitten im Satz und sah mich mit großen Augen an.
»Avery, du siehst wunderschön aus.«
Mit diesen Worten legte er seine Hand auf meine nackte Schulter und fuhr mit ihr langsam meinen gesamten Rücken runter, bis er kurz vor meinem Hintern stehen blieb. Diese sanfte Berührung ließ mich erstarren und ich spürte, wie eine Gänsehaut meinen Körper durchfuhr.
Ich konnte jedoch nicht einschätzen, ob diese durch seine sanfte Berührung oder durch die Angst, die immer noch in mir saß, entstanden war.

Ich schloss meine Augen, um meine Gedanken wieder zu sammeln und spürte im nächsten Moment bereits weiche Lippen auf meinen. Es war ein kurzer und sanfter Kuss, der mir den Atem stocken ließ. Diesmal war ich mir sicher, dass es die Angst war.
»Lass uns gehen«, flüsterte Logan und war mir dabei so nah, dass ich seinen warmen Atem spüren konnte. Ich wartete noch wenige Sekunden, bis ich meine Augen öffnete und ihn schwach anlächelte.
»Klar, nach dir.«

Der Gastgeber der Party hieß Jared Mason. Ich hätte gelogen, wenn ich behauptet hätte, dass ich wusste, wer dieser Jared war. Er studierte - laut Logan - ebenfalls an derselben Universität, auf die Logan und ich auch ab der nächsten Woche gehen würden.
Logan war Jared noch nie persönlich begegnet, aber da es hieß, Jared würde wirklich jeden zu seinen Partys einladen, war es eigentlich kein Wunder, dass auch wir zu seinen Gästen gehörten.

Kaum waren Logan und ich aus dem Auto ausgestiegen, schlang er seinen Arm um meine Taille und zog mich etwas näher an sich. Wegen dieser plötzlichen Berührung zuckte ich kurz zusammen, entspannte mich aber nach Logans überraschtem Blick sofort wieder.
Das war typisch für ihn. Sobald wir irgendwo zusammen waren, wo die Möglichkeit bestand, dass mich Typen angaffen könnten, versuchte er ihnen von vorne rein zu zeigen, dass ich zu ihm gehörte und niemand es auch nur versuchen sollte, mich anzusehen. Das ist auch der Grund, warum mich viele um Logan beneideten.

Abgesehen davon, dass er gut aussah und ziemlich beliebt in der Uni war, träumten die meisten Mädchen nur davon, von jemandem wie Logan vor dem Rest der Welt beschützt zu werden. Nun ja, und ich hatte dieses Glück. Er kontrollierte mich natürlich nicht rund um die Uhr, aber manchmal führte er sich wie ein Hund auf, der sein Revier markiert und mit allen Mitteln verteidigen würde. Immerhin konnte ich gut auf mich selbst aufpassen und hatte keinen Bodyguard nötig.
Genau genommen müsste Logan mich dann eigentlich vor sich selbst beschützen. Sofort schüttelte ich mit meinem Kopf, um diesen Gedanken wieder loszuwerden. Ich liebte Logan, nichts würde das ändern.

Die Tür des riesigen Hauses in dem die Party stattfand, stand weit geöffnet, sodass wir nicht klingeln mussten, sondern einfach eintreten konnten. Schon aus der Ferne hatte man die Musik sehr laut gehört, aber gegen die Lautstärke im Haus selbst, war das ein Witz gewesen. Der Bass dröhnte in meinen Ohren und wir wurden bereits im Flur von wild tanzenden Menschen angerempelt.

Logan deutete mit seinem Kopf in Richtung Bar und blickte mich dann fragend an. Sofort nickte ich eifrig, da ich mir sicher war, dass ich Abend ohne Alkohol nicht überstehen würde. Keine Sekunde später nahm er bereits meine Hand in seine und zog mich so elegant durch die Massen, dass wir es bereits wenige Momente später an die Bar geschafft hatten, die mir zuvor eindeutig weiter entfernt erschienen war.

Logan kannte den Barkeeper anscheinend, da sie sich sobald wir angekommen waren, gemeinsam über irgendwelche Prüfungen aufregten und so vertieft in dieses Gespräch waren, dass Logan nicht einmal daran dachte, etwas zu bestellen.
Also nutzte ich die Gelegenheit und blickte mich etwas im Raum um. Ich sah kein einziges bekanntes Gesicht in der Menschenmenge, was höchstwahrscheinlich daran lag, dass das Semester erst in einer Woche beginnen würde und ich somit noch keine Kontakte knüpfen konnte.

Und da sah ich ihn. Er stand am anderen Ende des Raumes und blickte genau in meine Augen. Sogar jetzt, als ich ihn ebenfalls anschaute, wandte er den Blick nicht ab. Das erste, was mir auffiel, war sein muskulöser Körperbau. Er trug ein T-Shirt mit V-Neck, welches sich über seine Brust spannte und dazu eine einfache Jeans. Auch wenn die Motive aus dieser Entfernung nicht zu erkennen waren, konnte ich doch ganz deutlich sehen, dass seine beiden Arme und seine Brust voller Tattoos waren. Sie standen ihm unglaublich gut. Seine Haare waren verwuschelt und es schien mir, als wäre er der einzige Typ im Raum, der sich nicht extra für diese Party zurechtgemacht hat.

Als ich erneut in sein Gesicht blickte, sah ich, dass er mich angrinste. Sofort schoss mir das Blut in den Kopf und ich war wirklich froh, dass das Licht in diesem Raum so stark gedimmt war, dass niemand sehen konnte, wie rot ich wurde. Erst als Logan mich antippte merkte ich, dass mein Mund die ganze Zeit über offen gestanden hatte.
Na toll, jetzt gab ich diesem Typ noch einen weiteren Grund, mehr als zufrieden mit seinem Aussehen zu sein. Eine Hand berührte mein Kinn und zog meinen Kopf zur Seite, sodass ich direkt in Logans blaue Augen blickte.

»Avery, alles klar? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Langsam nickte ich. Da das Logan als Antwort jedoch nicht ausreichte, wandte er den Kopf zur Seite und blickte in die Richtung, in die ich zuvor - wahrscheinlich nicht allzu kurz - gestarrt hatte. Innerlich betete ich, dass der Typ verschwunden war, denn ich wollte wirklich nicht, dass sich die gestrige Situation wiederholte.
Ich drehte meinen Kopf leicht zur Seite und lugte ebenfalls erneut in die Richtung.

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