Mir war natürlich klar gewesen, dass ich ihn wiedersehen würde, wenn ich zurückkomme, aber trotzdem war es ein Schock. Ich konnte seinen Blick einfach nicht aus meinen Gedanken bekommen, stattdessen sah ich ihn immer noch vor mir.
Verwunderung, Enttäuschung, Wut. So viele Emotionen lagen in seinem Gesichtsausdruck und fast wäre ich wieder zu ihr geworden: Zu der Person, die ich nicht mehr sein wollte. Die schwache Avery, die sich von allen herumschubsen lässt, sich von allen beeinflussen lässt.
Tatsächlich hatte ich es in den letzten Wochen geschafft, sie größtenteils hinter mir zu lassen. Nachdem ich gegangen war, wusste ich erst nicht wohin, also habe ich mir einfach ein Bahnticket gekauft und bin losgefahren. Ohne festes Ziel; einfach weg.
Im Zug habe ich Finn getroffen. Er war gerade auf dem Weg zu Freunden von ihm und nachdem wir uns einige Zeit unterhalten hatten, fragte er mich, ob ich ihn begleiten wollte, da ich ja sowieso nicht wusste, wo ich hingehen wollte.
Zuerst wollte ich absagen, denn die alte Avery wäre niemals einfach so einem Fremden gefolgt -auch wenn er im selben Alter war. Und genau aus diesem Grund bin ich mit ihm gefahren: Ich wollte etwas Neues erleben, Dinge tun, die ich vorher nie getan hätte. Ich war ihm dankbar, dass er nichts zu den Wunden gesagt hatte, die über meinen gesamten Körper verteilt waren, sondern akzeptierte die Tatsache einfach so, wie sie nun einmal war.
Wir standen vor einem Haus, das - dem Aussehen nach zu urteilen - kurz davor war, einfach in sich zusammenzustürzen. Ich konnte kein einziges Fenster sehen, das nicht zerbrochen war und die Hauswand war über und über mit Graffitis besprüht. Um zum Haus zu kommen mussten wir einen verwilderten Garten - falls man diesen überhaupt noch als solchen bezeichnen konnte - durchqueren und haben anschließend nicht die Eingangstür benutzt, sondern sind durch ein kleines Loch in der Hauswand ins Innere gelangt.
Sofort ertönten laute Stimmen. Lachen. Das war genau das, was ich brauchte. Mich mit Leuten umgeben, die unbeschwert sind. Die alles nicht so ernst sehen und einfach nur im Moment leben. Finn begrüßte einige der Leute mit einem Handschlag und stellte mich kurz vor. Wenig später saßen wir alle zusammen auf alten Klappstühlen und vermoderten Sesseln im Kreis zusammen, als eines der Mädchen eine Tüte auspackte, in der sich viele kleine, bunte Pillen befanden. Sie nahm sich eine und reichte die Tüte weiter. Vor Schock weitete ich meine Augen und sah unsicher zu Finn, ob er erkannte, was hier gerade abging. Und er hatte es erkannt, denn er wartete mit einem unheimlichen Grinsen im Gesicht schon darauf, dass das Tütchen bei ihm ankam.
Was sollte ich jetzt tun? Klar wollte ich mich verändern, aber war das gleich ein Grund, Drogen zu nehmen? Ich konnte bestimmt auch einfach ablehnen und die Tüte weiter geben, ohne dass jemand sah, dass ich nichts nahm. Aber eigentlich war das ja auch egal, denn es würde mich doch bestimmt niemand zwingen, etwas zu nehmen, oder? Finn war gerade dabei, sich eine hellblaue Pille zu nehmen und reichte mir dann die Tüte. Als er sah, dass ich sie sofort weitergeben wollte, griff er nach meinem Arm und sah mich mit seinen dunklen Augen an.
"Magst du nichts?" Er wirkte irritiert, als könnte er überhaupt nicht begreifen, dass jemand keine Lust auf Drogen hatte.
"Ähm, nein ich passe.", sagte ich und setzte ein Lächeln auf.
"Ach, das ist das erste Mal für dich, nicht? Komm schon, nimm dir eine. Ist ja auch kein hartes Zeug."
Misstrauisch beäugte ich die vielen bunten Pillen und blickte dann wieder zu Finn, der mich auffordernd ansah. Das Mädchen auf dem Platz links von mir wurde langsam unruhig, während sie darauf wartete, dass ich endlich die Tüte weitergab.
Ich konnte ja einfach eine aus der Tüte nehmen, ohne sie wirklich zu schlucken. Genau das tat ich auch: Ich griff nach einer sonnengelben Pille und reichte die Tüte weiter, woraufhin das Mädchen genervt aufstöhnte und etwas von "Anfängerin" murmelte.
"Glaub mir, du wirst es nicht bereuen.", raunte Finn mir zu und ich nickte nur abwesend.
Vielleicht war es ja wirklich nicht so schlimm. Es gibt doch eine Menge Leute, die auf Partys Drogen nehmen, nicht? Nachdenklich wendete ich die Pille in meiner Hand und las immer wieder den eingravierten Schriftzug 'Sun' darauf.
Da stupste Finn mich mit seinem Ellbogen an und wackelte mit den Augenbrauen, bevor er die Pille runterschluckte. Dann sah er erwartungsvoll zu mir.
Wieder fiel mein Blick auf die gelbe Pille in meiner Hand. Ich würde das bestimmt nicht... ach scheiß drauf! Entschlossen nahm ich die Pille in den Mund und biss einmal rein, um sie zu zerteilen, da ich schon immer erbärmlich darin war, irgendwelche Tabletten zu schlucken.
Sofort bereute ich es, denn ein ekelhaft bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, sodass ich die Pille so schnell wie möglich runterschluckte.
"Das. War. Ekelhaft.", teilte ich Finn meine Erfahrung mit. Er stieß nur ein lautes Lachen aus und erklärte: "Du darfst da ja auch nicht drauf beißen! Die schluckt man einfach runter."
Sofort wurde ich rot - warum weiß ich auch nicht, immerhin war ja nichts Peinliches an der Situation."Ich merke gar nichts.", sagte ich enttäuscht. Irgendwie war ich dann doch gespannt darauf, was jetzt geschehen würde.
"Das dauert noch eine Weile, bis sie wirkt. Magst du tanzen?"
Er stand auf und hielt mir seine Hand hin. Ich legte meine Hand in seine und erhob mich ebenfalls. Tanzen und warten war dann doch immer noch besser, als einfach nur zu abzuwarten.
In dem Moment drehte jemand die Musik, die wahrscheinlich ohne, dass ich es bemerkt hatte, schon die ganze Zeit im Hintergrund gelaufen ist, auf und auch andere erhoben sich von ihren Sitzen und begannen zu tanzen.
Irgendwie gefiel mir diese Unbeschwertheit. Diese Leute hier schienen so sorgenlos; das wollte ich auch, ich wollte auch so frei sein, wie sie.
Ich weiß nicht wie lange ich mit Finn getanzt hatte, bis Finn plötzlich nicht mehr Finn war. Auf einmal hielt mich stattdessen Jared in seinen Armen und lächelte mich traurig an.
"Was ist los, Jared?", fragte ich bedrückt. Ich wollte nicht, dass er traurig war.
"Warum bist du gegangen, Avery?"
"Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Wäre ich nicht gegangen, wäre ich zerbrochen."
"Aber liebst du mich nicht auch? Konntest du nicht mir zuliebe bleiben?", fragte er. Diese Aussage kam unerwartet. Hieß das, er liebte mich auch?
"Natürlich liebe ich dich, Jared, aber ich..."
Weiter kam ich nicht, denn Jared hatte seine Lippen bereits auf meine gelegt und begann mich leidenschaftlich zu küssen.
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Don't You See?
Teen FictionAverys erstes Jahr am College hat begonnen. Während sich ihre Kommilitonen mit den üblichen Problemen eines Studienanfängers rumschlagen, hat sie ganz andere Sorgen: Logan. Seit zwei Jahren sind die beiden ein Paar, aber plötzlich verändert er sich...