Kapitel 1.3 - Die dunkle Bestie

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Als sie wieder aus der Kapelle kam, ging die Sonne gerade unter. Schlendernd lief sie zur Taverne zurück, wo sich mittlerweile die ersten Gäste eingefunden hatten. Als sie eintrat drehten sich alle Gesichter zu ihr herum. In diesem Moment kam Norman hinter der Theke hervor
„Ah da bist du ja Mädchen. Ich wollte soeben los, bist du soweit?" Sie nickte nur, griff nach ihren Beuteln und ging hinter Norman aus der Taverne. Draussen half er ihr ihre Sachen auf den Zugkarren zuladen. Das Pferd war bereits eingespannt. Norman sass vorne auf dem kleinen Bock und sie setzte sich hinten zu ihrem Gepäck. Keine fünf Minuten später ruckelte das Gefährt los und sie liessen Spelthorne hinter sich. Der Karren wirkte unglaublich klein neben Norman und sie musste schmunzeln. Er war ein Koloss von einem Mann. Sie konnte sich gut vorstellen, dass kleine Kinder ihn für einen Riesen hielten! Er brauchte den ganzen Kutschbock und seine Kleidung spannte sich streng um seinen Rücken. Er hatte braunes schütteres Haar, in der Mitte des Kopfes hatte er bereits eine Glatze, die nun aber von einem Hut verdeckt wurde. Dafür hatte er aber einen äusserst beeindruckenden Vollbart im Gesicht. Obwohl seine äussere Erscheinung einem in Angst und Schrecken versetzen konnte, merkte sie rasch, dass Norman ein liebenswürdiger Mann war. Trotz allem würde sie ihn lieber nicht wütend erwischen wollen. „Wir werden so in zweieinhalb Stunden dort ankommen. Wie ist eigentlich euer Name?" fragte Norman. Ihr blieb das Herz für eine Sekunde stehen, sie hatte sich immer noch keine Gedanken zu ihrer Geschichte gemacht! Was sollte sie bloss sagen...?
„Ich heisse Rose... Rose Grey". Sie hatte sich also entschieden ihren zweiten Namen zu nennen. Sie versuchte ihre Gedanken zu beruhigen, die Alarm schlugen. Niemand würde hier ihren zweiten Namen kennen und wer würde schon auf den Gedanken kommen, dass sie sich als Dienstmagd und hier in Surrey verstecken würde?! Jetzt wo es dunkel wurde, merkte man die Kälte, die einem die Glieder empor kroch. Wenn sie nicht bei den Herrschaften arbeiten könnte, dann musste sie wohl oder übel irgendwo im Feld, oder vielleicht würden sie ihr erlauben im Stall zu schlafen?! „Ist das denn kein Hindernis, wenn ich zu dieser Zeit bei den Herrschaften Anfrage? Ich will sie nicht in den Abendstunden stören" fragte sie, während sie noch immer halb überlegte, ob es falsch war ihren Namen zu nennen. Norman grollte
„Ach nein Rose, ich glaube die Herrschaften sind froh, wenn sie Hilfe bekommen" und dann meinte er etwas ernster „ist im Moment keine einfache Zeit. Der alte Earl ist krank, keiner weiss wies um ihn steht. Seine Söhne sind extra von Weither angereist, um ihm beizustehen. Der Earl hat zwei Söhne und eine Tochter... Schlimme Sache, doch wir alle hoffen nur das Beste für die Familie". So fuhren sie eine Zeit weiter. Norman erzählte noch einiges über die Landschaft von Surrey, aber bei der Familie hielt er sich rar. Rose hörte nur noch halb zu. In ihren Gedanken gestaltete sie ihre Geschichte bis ins Detail, damit auch nichts mehr dem Zufall überlassen werden musste. Nach kurzen zweieinhalb Stunden, fuhren sie die Auffahrt zum Herrenhaus hinauf. Es war überwältigend. Das Haus war einige Yards hoch und etliche lang. Die Fassade war dreistöckig und aus grauem Stein genauestens bearbeitet worden. Es zeigte den Stolz der Familie und natürlich ihren Reichtum. Über der grossen Doppelflügeltür hing das Wappen der Familie in Rot und Gold unterteilt und darauf ein grosser Löwe. Bei ungefähr zwei Yards fingen die ersten Fenster an, die alle so gross waren wie das Kappelenfenster. Das Haus stand auf einem kleinen Hügel, links hinunter ging es zu den grossangelegten Pferdeställen und rechts war eine hohe Mauer. Man konnte nicht erkennen was sich dahinter befand. Norman half ihr aus der Karre und sagte „Also Mädchen geh und hol dir eine Arbeit". Sie sah Norman an
„Du musst nicht zu den Herrschaften?"
„Ich habe noch einen etwas weiteren Weg und stelle die Fässer für die Herrschaften so wie immer ab" lächelte er sanft und zog seinen Hut.
„Ich bin dir äusserst dankbar Norman der Wirt. Ich werde mich irgendwann dafür revanchieren"
„Das kannst du schon jetzt tun. Gib das doch bitte dem jungen Lord Blackheat. Und bitte versprich mir, dass nur, ausschliesslich nur er dieses Paket erhält". Norman sah sie eindringlich an. Rose nahm den versiegelten Umschlag
„Ja ich verspreche es, nur Lord Blackheat wird dieses Paket erhalten"
„Gut, also dann eine gute Nacht und ein herzliches Willkommen in Surrey". Er winkte mit seinem Hut, dann ging er zum Karren, stieg auf und fuhr davon. Rose schaute ihm noch eine Zeit lang nach und drehte sich dann mit ihrem Leinensack, der langsam ein wenig zu schwer wurde, um und ging zur Haupttür des Hauses. Sie wollte gerade den grossen Türklopfer benutzen, als sie plötzlich ein seltsames Geräusch hinter sich vernahm. Ein Keuchen... nein eher ein Hecheln... es wurde deutlicher. Es war eher ein Knurren... Sie lauschte angestrengt. Nun hörte sie es ganz klar. Es war ein Knurren, eindeutig! Ein bedrohliches, zähnefletschendes Geräusch. Sie drehte sich hastig um und sah, dass von den Ställen her ein schwarzes Etwas, das diese Geräusche verursachte, auf sie zusteuerte. Rose stiess einen Schrei aus, liess alles was in ihrer Hand war fallen und floh in Richtung der Mauer. Sie rannte so schnell sie konnte dieser Mauer entlang und erst als sie am Ende angekommen war, entdeckte sie hinter den Ginsterbüschen eine Holztür. Ohne nachzudenken, bahnte sie sich einen Weg zwischen den Büschen hindurch. Die Äste kratzten über ihr Gesicht und zerrten an ihren Hemden. Sie gab sich grosse Mühe dieses kleine Stück, dass sie von der Tür trennte, noch zu überwinden. Bei der Tür angekommen rüttelte sie am Schloss und hämmerte dagegen. Sie schien verschlossen. Hastig warf sie einen Blick nach hinten, um zu sehen, wo das schwarze Etwas geblieben war. Sie sah es nur einige Schritte von ihr entfernt, wie es vor den Büschen lauerte und es langsam schleichend auf sie zukam. Schweiss rann ihr die Stirn hinab und sie versuchte ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen. Sie warf ihr gesamtes Gewicht gegen die Holztür
„Bitte geh auf!" rief sie verzweifelt. Die plötzliche Leere vor ihr, liess sie straucheln. Die Tür war offen. Rose spurtete hinein und schmiss die Tür hinter sich ins Schloss. Der Riegel schnappte im Halter ein. Die Kreatur sprang wild gegen das Holz und keifte fürchterlich. Rose versuchte sich zu beruhigen und presste ihre rechte Hand auf das Herz, sie lief weiter rückwärts, liess die Augen nicht von der Holztür. Plötzlich stiess mit etwas hartem, grossem und warmen zusammen. Rose wirbelte herum, schlug und trat um sich, in der Hoffnung alles Mögliche zu treffen. Sie schrie auf, als das grosse harte Ding versuchte sich an ihr festzukrallen. Sie kratzte und biss, so dass sie sich befreien konnte und rannte weg in das Gebüsch das ihr am nächsten war. Es war so Dunkel, sie konnte nur schleierhafte Umrisse erkennen. Sie rannte immer weiter. Ihre Haare verfingen sich in den Ästen und öffneten ihren Zopf. Verzweifelt fragte sie sich, wie die schwarze Bestie nur hineingekommen war. Sie hatte die Tür doch sofort verrammt! Sie rannte weiter, Äste peitschten ihr ins Gesicht, zerkratzten ihre Arme, zerrissen ihr Kleid. Sie rannte über weichen Boden und stiess schliesslich mit einem Baum zusammen, stolperte über dessen Wurzel und fiel krachend zu Boden. Ihr Kopf drehte sich. Sie spürte die feuchte Erde auf ihrem Gesicht, die in ihren offenen Wunden brannte. Ihr tat alles weh. Es war zu viel! Wie hatte sie nur je glauben können, dass sie ein solches Leben überstehen würde?! Sie versuchte sich aufzurichten, doch jeder einzelne Knochen schmerzte unerbittlich. Sie spürte, wie sie all ihre Kraft verloren hatte. Eine Vibration auf der Erde liess ihre Gedanken verstummen. Sie wusste, dass das Etwas sie jetzt eingeholt hatte. Tränen rannen ihr über die Wange, wofür sie sich gleich wieder tadeln könnte. Wieso gab sie sich jetzt Tränen hin?! Sie durfte nicht schwach sein! Sie fühlte eine warme, harte... Hand?! War das möglich...? über ihren Kopf zu ihrem Hals hinab wandern. Die Hand hielt bei ihrer Halsader an und drückte darauf. Dann spürte sie, wie sich etwas über sie beugte, vor sie hinkniete und sie umdrehen wollte. Sie wagte nicht ihre Augen zu öffnen, doch das spielte sowieso keine Rolle, denn ihr Herz, so schien es ihr, klopfte ohnehin so laut, dass jeder es hören konnte. Das Wesen kam ihr ganz nah und öffnete mit einem Finger ihr linkes Augenlied. Nun war es mit der inneren Ruhe von Rose geschehen. Sie öffnete beide Augen und starrte in dunkelgraue, fast schwarz schimmernde Höhlen. Im ersten Moment sah sie nur diese beiden pechschwarzen Punkte, bevor sie den Rest, der noch dazu gehörte, erblickte. Eine markante Nase, harte Wangenknochen, die das Gesicht kraftvoll und fast einschüchternd aussehen liessen, erkannte sie nach und nach. Volle schwarze Wimpern und Augenbrauen, die mit dem schwarzen Haar, das ein wenig zerzaust wirkte, auf eine Art wunderbar harmonierten. Harmonierten?! War sie jetzt völlig übergeschnappt!? Wie konnten Augenbrauen harmonieren? Sie musste sich unweigerlich den Kopf gestossen haben... sie blinzelte, um den stechenden Augen auszuweichen. Dann sah sie ein Kinn und einen Hals, welche zu einem kräftigen Oberkörper mit breiten Schultern wurden. Rose wusste nicht, wie lange sie ihn so angestarrt hatte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ah verdammt" wetterte sie und zog ihre Hand zu ihren Lippen, wo sie warmes Blut fühlte.
„Eigentlich hätte ich das Recht meinen Zorn laut zu äussern... was zum Teufel tut ihr zu dieser Zeit da draussen?!" kam es von einer rauen männlichen Stimme. Rose achtete nicht auf ihn und richtete sich auf. Er erhob sich. Als auch Rose schliesslich stand, richtete sie endlich einen Blick auf den gesamten Mann. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Er war grösser als sie gedacht hatte, sicher fast sechseinhalb Fuss. Seine Kniebundhose zeigte deutlich seine kräftigen Schenkel. Rose liess denn Blick aber sofort wieder nach oben wandern und bemerkte, dass auch er sie musterte. Sie reckte ihren Rücken. Sie würde keine Schwäche preisgeben. Ihr Anblick musste ziemlich entsetzlich sein, voller Blut und Erde. Sie sah hinunter und begutachtete sich. Einige Schrammen an Armen und Gesicht konnte sie deutlich spüren, ihr Hemd war an einem Ärmel zerrissen und gab ein Stück ihrer feinen Haut frei. Sie zog an dem Stofflappen und hielt ihn fest. Der Hüne kam näher zu ihr, ihrer Meinung nach zu nah, sie konnte seinen Duft wahrnehmen. Sie atmete tief ein, klammerte sich an ihren Stofflappen und funkelte ihn zornig an. Sie schob ihr Kinn nach vorn. Sie würde auch dieses Hindernis meistern und diesem Lüstling klar zu verstehen geben, dass sie nicht eine dieser Damen sei. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Sie presste ihren Kiefer aufeinander und schlug seine Hand entschlossen weg. Er kniff seine Augen zusammen und sah sie durchdringend an „Wollt ihr noch weiter, wie ein wildes Tier um euch schlagen oder kann ich mir jetzt eure Wunden ansehen?!" meinte er bissig. Sie beäugte ihn misstrauisch, aber liess diesmal seine Hand an ihre Wunden. Er streifte mit seinen rauen Fingern über ihre Stirn und hielt erst bei ihrer Lippe inne. „Sie sind nicht tief, es muss nichts genäht werden. Ein wenig Wasser und Seife wird reichen". Er taxierte sie scharf „Was wolltet ihr hier draussen?" meinte er vorwurfsvoll. Rose schnaubte und strich sich mit ihrer Hand über die Wange, wo Sekunden zuvor noch seine Hand geruht hatte. Was wollte er damit sagen, war es ihre Schuld, dass sie angegriffen worden war?!
„Danke für diesen überaus unfreundlichen Empfang!" Sie klopfte ihren Rock aus. Erde und Staub wirbelten zu Boden „Ich hätte heute eigentlich beim Earl of Surrey, der Familie de Warenne, vorstellig werden sollen, aber so wie ich jetzt aussehe, kann ich mir das gleich aus dem Kopf schlagen! Vielen Dank, dass ihr mich durch dieses Gestrüpp gehetzt habt!" Sie ging an ihm vorbei in die Richtung zurück, wo sie hergekommen war.
„Wohin gedenkt ihr zu gehen?" sagte er eiskalt. Rose merkte, wie ihre Knie zitterten. Sie wappnete sich innerlich und meinte
„Na dorthin, wo ich hergekommen bin. Ich hoffe nur, dass bis morgen mein Gesicht wieder einigermassen ansehnlich wirkt" meinte sie knapp. Sie ging weiter. Er schien ihr zu folgen
„Aber wo gedenkt ihr bitte zu nächtigen? Das nächste Dorf befindet sich zu Fuss eine Stunde entfernt und ihr würdet es sowieso nicht finden". Sie blieb stehen und sah ihm in die Augen, ihre Wut schäumte nur so an die Oberfläche
„Denkt ihr das, weil ich eine Frau bin?! Seid versichert in meinen Knochen steckt mindestens so viel Mut wie in euren" sie schien diese Worte beinahe auszuspeien. Wie konnte er! Solche selbstverliebten Männer, Engländer, kannte sie zu genüge. Sie ging auf die Holztür zu und wollte sie gerade öffnen, als er von hinten kam und die Tür zudrückte. Dabei presste er Rose mit dem Rücken an die Holztür und blieb ganz dicht bei ihr. Er machte einen tiefen Atemzug und sagte durch zusammengepresste Zähne
Nein, ihr kennt euch hier nicht aus und es ist dunkel. Da draussen ist es zu gefährlich". Er schluckte und nahm Abstand von ihr „Bleibt hier! Ich werde sehen was ich für euch tun kann". Er wollte sich gerade umdrehen, blickte aber nochmals in ihre Augen „Werdet ihr hier bleiben?" Sie sog scharf die Luft ein und sah tief in seine beängstigenden Augen
„Ich... ich..." ihr fielen keinerlei Widerworte ein... was konnte sie schon entgegnen? Dieses Etwas von einem Mann hatte leider recht. Sie kannte sich nicht aus und es war dunkel. Deshalb antwortete sie ausweichend „Meine Habseligkeiten liegen vor der Tür des Herrenhauses... ich kann sie nicht dort lassen". Anscheinend schien er ihre ausweichende Antwort zu durchschauen
„Falls ihr morgen noch leben und nicht als kaltes Fleisch am Strassenrand enden wollt, dann hört ihr besser auf mich! Ich kümmere mich um eure Besitztümer" meinte er genervt und entschwand in die Dunkelheit. Sie schluckte und fing an zu zittern. Sie sah, wie er im Schatten des Lichtes beim Herrenhaus wieder in Erscheinung trat. Erst langsam begann sie die Geschehnisse der letzten halben Stunde zu verarbeiten. Ihre Knie schwankten bedrohlich und sie setzte sich in die feuchte Wiese und wisperte leise zu sich selbst
„Ich bin nun in Sicherheit". Sie sog die kühle Nachtluft in ihre Lungen.



Schottisches Feuer und englische Anmut - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt