Kapitel 4.1 - Lord Surrey

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Der erste Schneefall kam fünf Tage vor Weihnachten. Er war stürmisch und kräftig. Die Stallungen mussten zusätzlich ver-kleidet werden und auch einige der Fenster mussten durch weitere Gobelins behangen werden, damit die Kälte sich nicht allzu schnell verbreitete. Die Kamine wurden in jedem Zimmer Tag und Nacht beheizt. Als Isabella gerade im zweiten Stock in den Gemächern der Countess den Kamin wieder anheizte, kam die Countess, Alice de Warenne, selbst ins Zimmer. Isabella wollte sofort den Raum verlassen.
„Du da am Kamin... Rose, du kannst gleich in den Gemächern meines Mannes den Kamin anheizen, er ist soeben ausgegan-gen. Beeil dich!" Isabella sah zu wie die Ladyschaft in ihr Anklei-dezimmer ging und ihre Kammerzofe ihr sofort folgte. In den Gemächern des Earls war sie noch nie gewesen, es war fast so, als läge ein grosses schwarzes Geheimnis hinter diesen Türen. Kalte Schauer flossen ihr den Rücken hinunter, doch Isabella ging auf die Türen des Earls zu und öffnete sie. Sein Gemach war riesig. Die weissen Decken waren hoch oben, zwei grosse Männer die aufeinander stehen würden, könnten die Decke nicht berühren. Sie war mit Stuck verziert, der in Kreisen ange-ordnet war. Eigentlich hätte dieser Raum hell erscheinen müs-sen mit der weissen Decke, doch die Gobelins waren fast ganz zugezogen und nur ein paar Lichtstrahlen schafften es in das Schlafgemach. Es war dämmrig. Ein Geruch nach Wärme, Medi-zin und Erbrochenem füllte den Raum und etwas anderes. Der Geruch rührte an einer Erinnerung. Es roch bitter, der Ge-schmack legte sich unangenehm auf der Zunge ab. Als sie mit-ten im Zimmer stand, sah sie, dass die Lichtstrahlen von der Terrasse her in den Raum fielen. Der dunkelbraune Gobelin wehte am Boden leicht hin und her und Isabella fühlte einen kalten Luftzug an ihrer Wange. Die Terrassentür war nur leicht angelehnt. Isabella schloss sie vorsichtig, zog jedoch den Gobe-lin etwas weiter auseinander. Ihr Blick fiel auf die grosszügige Terrasse und die dahinterliegenden Hügel. Vor ihr lag eine riesi-ge Wald- und Flurfläche. Links erstreckte sich der winterkahle Wald, daneben war ein Waldweg, welcher direkt in den Forst hineinführte. An den Weg grenzte die Flur. Mittlerweile hatte der kräftige Schneefall die ganzen Flächen bedeckt. Sie sah, wie ein paar Rehe aus dem Wald vorsichtig auf das Gelände schli-chen und dort im Schnee scharten. Ein Stöhnen vom Ende des Zimmers liess sie aufschrecken. Sie blickte zum Bett. Ein grosses Holzbett ohne Baldachin stand an der hinteren Wand. Die Laken waren alle dunkelrot und ein grosser wollener Läufer war über sie gelegt worden. Ziemlich in der Mitte des Bettes lag ein Mann, er bewegte sich sanft. Auf dem Nachttisch links vom Bett standen Unmengen von Salben, Kräutern, Krügen und Töpfe. Aus einem der Gefässe, es sah aus wie eine orientalische Ölla-mpe, stieg weisser Rauch. Isabella ging auf den schlafenden Mann zu. Er lag mit geschlossenen Augen da und murmelte leise vor sich hin. Seine Schläfen waren silbergrau, sie vermisch-ten sich weiter hinten am Kopf mit einem immer noch sehr satten dunkelbraun. Die Konturen in seinem Gesicht waren scharf und eingefallen. Seine einst schönen Züge waren kahl und blass und sie erkannte den Mann auf dem Gemälde nicht in diesem eingesunkenen, kranken Gesicht. Doch sah sie in sei-nem Gesicht männliche Züge, welche ihr sehr bekannt vorka-men. Je länger sie ihn betrachtete, umso deutlicher wurden die einfassenden Züge sichtbar, die er seinem ältesten Sohn ver-erbt hatte. Er schien auch an seiner stattlichen Statur mehr als genug eingebüsst zu haben. Sein Nachtgewand wurde von spitzen Schultern getragen, die breite Brust schien knochig unter dem Gewand hervor. Er atmete schwächlich und unre-gelmässig zwischen seinem Murmeln. Isabella fühlte sich stark beklommen. Der weisse Rauch aus den Töpfen glitt über den Earl und verblasste einige Handbreiten über ihm. Aus einer Laune hinaus setzte Isabella sich auf das Bett neben den Earl und begutachtete ihn von Nahem. Vorhin hatte sie es nicht sehen können, doch nun entdeckte sie einen feinen roten Ausschlag unter dem Kinn, der zur Brust führte. Kam er viel-leicht von dem langen liegen im Bett? Sie berührte seine Stirn. Er war heiss. Fieber. Schnell zog sie ein Taschentuch aus ihrer Schürze und tunchte es in eine Wasserschüssel auf dem Tisch. Sie legte es über die Stirn des Earls. Dies war sehr merkwürdig. Sie hatte geglaubt der Earl wäre verwirrt, der Geisteskrankheit verfallen und kaum mehr ansprechbar, aber nicht, dass er an Fieber oder an etwas anderem erkrankt wäre. Traf möglicher-weise beides zu? Doktor O'Leary wusste bestimmt davon und würde sein möglichstes unternehmen. Isabella sah sich um. An der linken Seitenwand, an welcher sich auch die Eingangstür befand, war neben dem Bett der Kamin eingemauert. Die Holz-kohle glühte nur noch wenig. Das Feuer musste schon länger aus sein. Sie trat an den Kamin und schürte mit dem Haken die Gluten. Sie öffnete daneben eine kleine Tür. In diesem Haus war neben jeder Feuerstätte ein kleiner Schrank eingebaut, darin befanden sich vorrätige Holzstücke und ein Speckstein. Sie nahm sich ein paar Holzstücke und stapelte diese im Kamin. Mit dem Schürhaken wühlte sie die Gluten herum und nach einer Weile züngelten kleine Flammen an den frischen Stücken em-por. „Was tust du denn noch hier?" zischte es vom Eingang her. Ihre Ladyschaft hatte sich umgezogen. Sie trug ein violett bur-gunderrotes Kleid. Die Schaube war in Rock und Mieder geteilt. Der Rock war komplett tollkirschfarben und hatte eine Schlep-pe. Das Mieder war zweigeteilt in ein weisses Hemdchen, wel-ches die ganzen Arme bedeckte und ein wiederum tollkirsch-farbenes Überleibchen, welches über dem Dekolleté aufge-schlitzt war und man so das weisse Hemdchen sehen konnte. Feine Stickereien auf dem gesamten Kleid und Falten an den richtigen Stellen gaben dem Kleid den letzten eleganten Schnitt. Um ihren Hals trug sie eine grosse goldene Kette, an deren tiefsten Punkt über den Brüsten baumelte ein grosser dunkler Rubin. Ihr Haar war gelockt und kunstvoll nach oben gesteckt, nur das hintere Haar fiel, wie ein Wasserfall über ihren Rücken. „Eigentlich interessiert es mich nicht, wie lange du für eine Tä-tigkeit benötigst. Raus hier! Und zieh etwas Sauberes an. Nicht zu denken, was man sagen könnte, wenn man dich so sehen würde!"
„Ja Mylady" sagte Isabella und eilte zur Tür hinaus. Im Gang blickte sie an sich hinunter. Ihre Schürze war mit Russ bedeckt und einige rote Flecken waren zu sehen. Sie stutzte. Woher hatte sie diese rotvioletten Flecken? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen und ging nachdenklich zum Dienstboten-trakt. Möglicherweise waren die Flecken in der Küche auf ihre Schürze gelangt, da Emil gerade Früchte einkochte.

Schottisches Feuer und englische Anmut - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt