Das Flussufer

5K 106 6
                                    

In unserer Geschichte geht's um eine Stadt. Eine Kleinstadt. Und um die Leute, die dort wohnen. Auf den ersten Blick sieht's hier aus wie jede andere Kleinstadt, irgendwo auf der Welt. Sicher, anständig und unschuldig. Erst beim zweiten Blick erkennt man ihre Schattenseiten. Der Name unserer Stadt ist Riverdale. Unsere Geschichte beginnt mit dem, was die Blossom-Zwillinge diesen Sommer getan haben. Am 4. Juli, kurz nach Sonnenaufgang, fuhren Jason und Cheryl Blossom zum Sweetwater River für eine morgendliche Bootspartie. Das Nächste, was wir wissen ist, dass Dilton Doiley, der die Pfadfinder von Riverdale bei einer Vogelbeobachtungsexpedition anführte, Cheryl am Flussufer gesehen hat. Die Polizei von Riverdale hat den Sweetwater River nach Jasons Leiche abgesucht, aber vergeblich. Eine Woche später beerdigte die Familie Blossom einen leeren Sarg. Als Todesursache wurde ein Unfall angegeben, aber ein Gerücht machte die Runde. Cheryl hat einen Handschuh ins Wasser fallen lassen und Jason hat versucht ihn wieder rauszufischen. Dabei ist das Boot gekentert, er ist in Panik geraten und ertrunken. Was uns betrifft, wir reden auch am letzten Tag der Ferien immer noch von der Tragödie des vierten Juli, als die Stadt von einem neuen Mysterium überrollt wurde. “Bist du aufgeregt? Nervös?“, fragte Kevin euphorisch, der auf dem Bett meiner besten Freundin lag und sie ansah. Ich schaute von meinem Laptop hoch und blickte meine Freundin an, die nur mit einem BH bekleidet an ihrem Schminktisch saß und sich für ihr Treffen mit Archie fertig machte. Aufgeregt drehte sie sich um. “Beides. Ich hab ihn den ganzen Sommer nicht gesehen.“ Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf.

“Weswegen etwas Aufregung absolut verständlich ist, aber du hast es versprochen, Betty. Es ist soweit.“, erklärte Kevin. “Hey, du magst ihn. Und er dich.“

“Naja, und warum, Kevin, hat er dann noch nie etwas gesagt oder getan?“, fragte Betty und fuchtelte mit ihrem Pinsel herum. Seufzend klappte ich meinen Laptop zu und legte ihn zur Seite.

“Na, weil Archie ein toller Kerl ist.“, sagte ich lächelnd.

“Und wie den meisten hetero Männern der Jahrtausendwende muss man ihm sagen, was gut für ihn ist. Also sag's ihm. Endlich.“, fügte Kevin hinzu und rollte sich vom Bett. Er ging rüber zum Fenster und blickte zu den Nachbarn.

“Warten wir es ab. Ich meine, es kommt drauf an.“, meinte Betty unsicher.

“Oh mein Gott.“, kam es plötzlich von Kevin. Neugierig stellte ich mich neben ihn.

“Was ist?“, fragte ich und blickte selbst nach draußen, nur um einen oberkörperfreien Archie in seinem Zimmer zu sehen.

“Das Spiel hat sich verändert. Archie ist jetzt heiß.“, sagte Kevin und starrte den rothaarigen Jungen an. Betty kam schnell zu uns und starrte ebenfalls auf Archies Körper. “Er hat Bauchmuskeln bekommen. Sechs Gründe mehr den rotschöpfigen Bullen heute Abend bei den Hörnern zu packen, hörst du?“, machte Kevin weiter. Lachend wandte ich den Blick ab.

~

“Danke für diesen Moment der Stille. Viele von euch hatten das Glück, meinen Bruder persönlich gekannt zu haben. Jedem einzelnen von euch hat Jason viel bedeutet. Ich habe meinen Bruder geliebt. Er war und wird eins immer sein. Mein Seelenverwandter.“, sprach Cheryl durch das Mikrofon. Wir waren alle in der Turnhalle versammelt, um Jason Blossom bei der jährlichen Versammlung zum Schuljahresbeginn zu gedenken. Und natürlich hielt seine Schwester eine Ansprache. “Und das sage ich mit der Zuversicht, die nur von einem Zwilling kommen kann. Jason würde nicht wollen, dass wir das Jahr mit Trauer beginnen. Jason würde wollen, dass wir unser normales Leben weiterführen. Deshalb hab ich die Schulbehörde darum gebeten, die Party zum Schulbeginn nicht abzusagen.“ Die Schüler jubelten. Außer ich. Ich saß still auf der Tribüne und beobachtete Cheryl, die mit solch einem Selbstbewusstsein vor dem Podest stand, als wäre ihr Bruder überhaupt nicht im Fluss ertrunken. “Lasst sie uns nutzen, um den Schmerz zu überwinden. Und auch um das viel, viel zu kurze Leben meines Bruders zu feiern. Ich danke euch allen.“  Nachdem alle Cheryl applaudiert hatten, verstaute ich meinen Laptop in der Tasche und verließ die Halle. Genau wie alle anderen.

RiverdaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt