4. Austin: Fakten

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„Das schmeckt großartig! An dir ist wirklich ein Koch verloren gegangen!" Boris lächelte mich an, erwartete aber keine Reaktion und aß weiter.

„Find ich auch", pflichtete Raphael ihm bei.

Ich lächelte zurück, versuchte es echt aussehen zu lassen.

Wann hörten sie denn endlich auf, mich mit Samthandschuhen anzufassen? Wann begriffen sie endlich, dass das alles nur noch schlimmer machte? Ich brauchte Normalität. Etwas, das mir die Möglichkeit gab, zu verdrängen. Und ja, ich wusste, dass das nicht gesund war. Aber es war besser als weiterhin diese Schmerzen zu spüren.

Ich denke, weil meine Freunde das wussten, hatte ausgerechnet ich die Aufgabe bekommen, regelmäßig mit Boris und Silas zu trainieren. Damit ich eine Ablenkung hatte und vielleicht auch mal etwas Positives zu Stande brachte.

Irgendwie half es ja auch, aber trotzdem heilte es nicht. Ich heilte nicht. Und ich konnte diese Wunden einfach nicht mehr mit mir herum tragen.

„Entschuldigt mich", nuschelte ich, stand auf und verließ das Esszimmer.

Den anderen, vor allem Charlie, war es wichtig, dass wir mindestens einmal am Tag alle zusammen aßen. Meistens hielt ich das aber nicht lange durch. All die mitleidigen Blicke auf einmal war zu viel für mich.

Charlie war der einzige, dessen Gesellschaft mich nicht fertig machte. Er sah es wie es war; Ich war selbst verantwortlich für meinen Schmerz. Und nichts auf der Welt würde das wieder gut machen können.

Ich bereute es nicht, Jay umgebracht zu haben. Ich hatte es aus Liebe getan. Doch das änderte nichts daran, dass ich ihn vermisste und mich einfach nur schrecklich fühlte.

Klar wusste ich, dass er wohl gerade im Himmel war, im Paradies, da wo er hingehörte. Ihm ging es vermutlich gut. Vielleicht erinnerte er sich gar nicht mehr an sein irdisches Leben. Ich wünschte es ihm. Er sollte mich nicht vermissen oder sich daran erinnern, wen er alles durch seinen Tod zurückgelassen hatte. Seine Familie, seine Freunde, mich.

Ich wünschte Jay so sehr, dass es ihm gut ging, da wo er jetzt war. Aber es brachte mich um zu wissen, dass mir ein Leben in der Ewigkeit ohne ihn bevorstand.

Selbst nach drei Jahren fühlte es sich noch so an, wie am Tag seines Todes. Ich erinnerte mich daran, als sei es gestern gewesen. Ich erinnerte mich an den See, wie ich ihn ertränkt hatte, wie ich ihn festgehalten hatte. Ich hatte Hoffnung gehabt, er würde wieder auferstehen. Ich hatte ernsthaft versucht, ihn wiederzubeleben. Einfache Reanimationsmaßnahmen. Dumm, ich weiß. Aber ich war verzweifelt gewesen.

Ich war nicht mehr von ihm gewichen. Nächte-/ Tagelang hatte ich an diesem See verbracht. Ich hatte Glück gehabt, dass es mieses Wetter gewesen war, denn wenn mich jemand mit einer Leiche zusammen gesehen hätte... Das wollte ich mir auch nicht wirklich vorstellen.

Naja, jedenfalls war Jay immer blasser, immer toter geworden. Ich hatte ihn festgehalten, gebetet, gehofft, geweint und geschrien. Aber egal, was ich getan hatte, nichts hatte ihn zurückgebracht.

Nach ein paar Tagen standen plötzlich Charlie und Raphael vor mir.

Charlie hatte ungläubig und wütend ausgesehen, Raphael geschockt und traurig. Alle hatten in diesem Moment gewusst, was ich getan hatte.

Sie hatten mir geholfen, einen Platz im Wald für ihn zu finden, ihn zu begraben und seinen Tod so gut wie möglich zu vertuschen. Sie wollten mich trösten und für mich da sein.

Nur Charlie hatte die Fakten auf den Tisch gelegt. Ich hatte Jay umgebracht. Es war nicht mein Recht, zu erwarten, dass jetzt irgendwie alles gut werden würde. Er hatte mich als naives Kind bezeichnet, als Idioten beschimpft und schließlich in den Arm genommen und versprochen, trotzdem immer für mich da zu sein.

Er war der einzige, der mich verstehen konnte. Er hatte es auch getan. Den Menschen getötet, den er geliebt hatte. 2 Mal. Charlie hatte Henry das Herz aus der Brust gerissen... und er hatte den Fehler begangen, seinen Freund nach dessen Tod zum Vampir wiederzubeleben.

Ich wusste nicht wie, nur dass er es getan hatte. Aber ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nicht Gefahr laufen, es zu tun. Ich wollte nicht, dass Jay als so etwas wie Henry wieder zurückkam. Er solle als mein JayJay zurückkommen.

Aber seit 3 Jahren, jeden Tag aufs Neue, musste ich miterleben, dass er das nicht tat und realisierte immer mehr, dass er es nicht tun würde.

Das Schlimmste an der ganzen Sache war eigentlich, dass ich ihn ja loslassen wollte. Ich war bereit, nach all der Zeit, dem vielen Nachdenken, dem vielen Weinen und der Gewissheit, dass er es mir nicht übel nehmen würde.

Aber ich konnte nicht.

Obwohl ich wusste, da wo er jetzt war, konnte er glücklicher werden als auf dieser Welt.

Jede Nacht träumte ich von ihm, tagsüber bildete ich mir ein, seine Anwesenheit zu spüren, seine Stimme zu hören.

Ich wusste, wie krank das war. Doch ich war nicht bereit, es zu ändern.

In den letzten drei Jahren hatte sich alles um mich herum enorm verändert, alles war kaputt gegangen. Nur eine Sache war geblieben. Meine Liebe zu Jay.


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