18. Austin: Freundschaft

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„Erklärst du mir nochmal, wieso du jetzt hier wohnst?", fragte Boris Chad leise, aber Charlie und ich hörten es natürlich trotzdem auch, obwohl wir eigentlich grade Fernseher sahen.

„Hat mehrere Gründe. Ich will dich mit meinen Sorgen nicht belästigen", meinte Chad mit einem aufgesetzten Lächeln zu Boris.

Ich sah meinen Kumpel besorgt an.

Ich hatte ihn noch nie so erlebt wie gestern, als er so zusammengebrochen war und das zeigte, wie schlecht es um ihn stand.

Ich hatte mir auch die gesamte Nacht den Kopf darüber zerbrochen, wie ich ihm helfen konnte und hatte durchaus Ideen, wusste nur nicht, wie er darauf reagieren würde.

„Chad...", seufzte Boris und wollte ansetzen, etwas zu sagen, aber er stoppte, als Charlie ihn unterbrach. „Er redet schon, wenn er will, Kleiner. Sei nicht so neugierig, mh?"

Boris schnaubte eingeschnappt, schnappte sich die Fernbedienung, machte den Fernseher aus und das Licht an.

„Es geht nicht darum, meine Neugier zu stillen, Hamilton", blaffte er seinen Freund an und sah dann zu Chad. „Ich hab's einfach satt, dass es allen Leuten, die mir etwas bedeuten, schlecht geht. Ich will nicht herum sitzen und tatenlos auf einen Fernseher starren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie ich einem von euch helfen könnte, wenn ihr neben mir sitzt und euch zusammenreißen müsst, um uns vorzuspielen, dass es euch gut geht. Das ist keine Freundschaft. Ich will nicht, dass wir einen Punkt erreichen, an dem wir uns Freunde nennen, weil es gut klingt, aber in echt Fremde sind. Also bitte lasst uns reden"
Boris sah hauptsächlich Chad dabei an, warf mir aber auch kurze Seitenblicke zu. Aber er wusste, dass meine Mauer fest war und er nicht hindurch kommen würde, vor allem nicht, wenn Charlie dabei war.

Wir alle warteten einfach nur auf Chads Reaktion, während Charlie sich leicht aufrichtete.

Wir alle wussten, dass Boris Recht hatte. Und das sollte was heißen.

„Weißt du, es..." Chad sah zu Boden und schüttelte den Kopf. „Es gibt so viele Gründe, weshalb es mir grade mies geht. Aber ich weiß ja, dass ihr auch alle eure Probleme habt. Ich wohne schon bei euch und ich will mich hier echt nicht in den Mittelpunkt drängen..."

Boris schüttelte den Kopf und wollte Chad unterbrechen, aber der machte eine schneidende Handbewegung und sah Boris bittend an, ihn aussprechen zu lassen.

„...Aber ich weiß auch, dass ich in euch wahre Freunde gefunden habe und ihr für mich da sein wollt, egal, was sonst so los ist. Es gibt einige Sachen, über die ich einfach nicht reden möchte oder kann..."

Für einen kurzen Moment für seine Hand zu seinem Mund, als er die Lippen zusammenpresste, so als wollte er etwas nicht aussprechen oder einfach ein Schluchzen unterdrücken.

„Das mit Anni zum Beispiel" Es klang wie ein Folter für ihn, diesen Satz auszusprechen.

Der arme.

Ich rutschte näher zu ihm und legte ihm bestärkend die Hand auf den Rücken.

„Ich weiß, ihr könntet mich theoretisch schon verstehen, aber... Es ändert nichts, egal wie viel wir darüber reden oder wie viel ich jetzt heule" Er lachte leicht auf, doch bekam Tränen in den Augen. „Es ändert nichts daran, dass diese Auszeit nur eine Umschreibung dafür ist, dass sie mit mir Schluss gemacht hat und sich von mir hintergangen fühlt. Es ändert nichts daran, dass ich sie nicht mehr zurückbekommen werde und dass es, egal was ich auch tue, so bleiben wird. Ich... Ich liebe sie so sehr. Aber... Es ändert nichts..."

Er schloss die Augen und im selben Moment löste sich eine Träne, die hinunter floss. Er wischte sie schnell weg.

„...Und meine Familie ist es nicht wert, dass ich über sie spreche oder auch nur eine Träne für sie vergieße. Natürlich tut es weh. Das tut es sehr. Aber irgendwie haben sie mich ohnehin nie als Teil ihrer Familie akzeptiert, weil ich nicht so bin wie sie. Dale hat uns alle immer irgendwie zusammengehalten, aber seit er... weg... ist, weiß ich, dass ich mit ihm meine gesamte Familie verloren habe. Ich habe ihn immer besucht, mich um ihn gekümmert, ihm vorgelesen, seine Hand gehalten, ihn angefleht zu kämpfen. Aber er war da schon lange Hirntod. Und das ist der Grund, weshalb ich nicht traurig darüber bin, dass meine Familie und ich getrennte Wege gehen. Sie haben mich zwar schon oft belogen und hintergangen, aber das... Das bricht mir das Herz."

Ungläubig schüttelte Chad den Kopf. „Er war schon die ganze Zeit tot, als ich noch gehofft und gebetet habe. Ich kann es nicht glauben. Schlimmer als das ist eigentlich, dass meine Eltern ihn als Versager bezeichnet haben, weil er sich diese Verletzungen bei einem Auftrag zugezogen hat. Sie meinten, er tut wenigstens etwas sinnvolles, wenn sein Körper jetzt für die Experimente herhalten muss" Chad schluchzte leicht, doch sprach weiter. „Ich... Ich weine nicht, weil ich aus einer Familie voller kaltherziger Egoisten komme, sondern weil Dale es tut. Er hat so viel Besseres verdient. Und ich weiß, dass er im klinischen Sinne eigentlich schon tot ist und dass der Umgang mit seinem Körper jetzt nichts mehr daran ändert, aber es tut so weh, dass ihn niemand so ehrt, wie er es verdient hätte... und..."

Er schluchzte und schniefte immer wieder zwischen durch, doch machte nun eine kleine Pause, als Boris ihm ein Taschentuch gab und er mal alles ausschneuzte.

„...ich kann nicht akzeptieren, dass ich im letzten Gespräch, das ich mit Dale hatte, genauso war wie unsere Familie es jetzt ist. Ich habe ihm so schlimme Dinge an den Kopf geworfen, nur weil ich beleidigt und eifersüchtig war und... Und jetzt ist er tot"

Ach scheiß drauf. Ich rutschte einfach komplett an Chad heran und legte meinen Arm um ihn, damit er wusste, in mir hatte er jemanden, an dem er sich festhalten konnte. Das tat er auch, indem er die Hand auf mein Knie legte und die Finger leicht reinkrallte, als er weitersprach.

„Ich habe die letzten 5 Jahre darauf gehofft, dass er wieder aufwacht, ich mich entschuldigen kann und ihm beweisen, wie stolz ich eigentlich auf ihn bin, aber jetzt ist das unmöglich... Er ist mein kleiner Bruder... Ich hätte auf ihn aufpassen und ihn beschützen sollen. Und jetzt passiert das alles mit ihm... Ich bin so ein schlechter Mensch..."

Okay, das war's jetzt komplett.
Ich musste einfach dazwischen gehen.
Ich war auch schon dabei, den Mund zu öffnen, als ich plötzlich Charlies Stimme hörte.

„Das bist du nicht", sagte er ruhig.

Chad sah schniefend und schluchzend zu Charlie, der ihn eindringlich ansah.

„Du bist kein schlechter Mensch. Das klingt für dich vielleicht abstrakt, aber ich würde es riechen, wenn du einer wärst. Und, was ich an dir rieche ist, dass du ein loyaler, treuer, friedlicher, vertrauenswürdiger und toller Mensch bist. Deine Seele wird sich im Himmel mit Dales wiedertreffen, davon bin ich überzeugt. Also wisch dir die Tränen weg und überleg dir, was wir tun können, um deinem Bruder die letzte Ruhe zuzuführen, die er sich verdient hat"

Only YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt