6. Silas: Suche

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Mitten in der Nacht ertönten laute Schreie aus dem Flur, wodurch ich wach wurde.
Auch Raphael schien es gehört zu haben, denn er brummte missgünstig und rieb sich über die Augen, während er sich weiter auf mich schob.
Ich lächelte ein wenig, weil er so unendlich süß war, aber dennoch war ich durch die Schreie mehr als besorgt.

„Ich muss aufstehen, Raphi. Austin braucht mich"

Er brummte erneut und hielt mich fest. „Ich brauch dich auch"

Ein Seufzen verließ meine Lippen, als ich meinen fast-Mann von mir schob und ihm mehrere kleine Küsse auf die Wange drückte. „Ich bin ja gleich wieder da", versprach ich ihm.

Er gab ein unidentifizierbares Gemurmel zurück und kuschelte sich an mein Kissen.
So schnell war ich also ersetzt. Naja, wenigstens konnte ich jetzt gehen.

Ich gab mir keine Mühe, leise zu sein, da durch Austins Schreie ohnehin alle wach wurden.

Als ich den Flur betrat, sah ich auch schon ein paar Türen weiter, dass Boris und Charlie rauskamen. Ich musste gar nicht in ihre Gedanken sehen, um ihre Sorgen zu erkennen.

Zusammen eilten wir in die Richtung, aus der die Schreie kamen.
Austin befand sich im unteren Stockwerk und rief nach Jay.

Das passierte seit seinem Tod beinahe jede Nacht. Austin konnte sich nach dem Aufwachen nicht mehr daran erinnern, dass er tot war, dass er weg war und dass er nicht wieder kommen würde. Er suchte seinen Freund und verzweifelte dabei fast. Jedes Mal. Und jedes Mal war es an uns, ihn zu beruhigen.

Anfangs waren wir alle selbst fast daran verzweifelt, nach Monaten waren wir irgendwann genervt gewesen und jetzt gehörte es zu unserem Alltag, so in den Tag zu starten.

„Austin!", brüllte Charlie, um ihn zu beruhigen.

Er lief im Wohnzimmer auf und ab, raufte sich die Haare, murmelte unverständliche Dinge.
Er wirkte verrückt, komplett durchgeknallt. Wäre er nicht einer meiner besten Freunde, hätte ich ernsthaft Angst, mich ihm zu nähern.

Austin zuckte heftig zusammen wegen Charlies strenger Stimme und sah dann ängstlich zu uns. Er zitterte sogar. Es schien ihm kalt zu sein.

Boris bemerkte das auch, er holte eine Decke, während Charlie und ich versuchten, Austin zu beruhigen.

„Er ist weg, Austin. Beruhig dich, dann erinnerst du dich"
Charlie war bei dem Thema mit Austin und Jay sehr sensibel und leicht reizbar. Ich konnte ihn irgendwie verstehen. Austin und Charlie hatten noch darüber gesprochen, Austin hatte Charlie versprochen, er würde keinen Mist bauen und einen Tag später hatte er Jay umgebracht.
Charlie fühlte sich, als sei Austin ihm dadurch in den Rücken gefallen. Er vertraute Austin nicht mehr. Und, dass er Boris nicht mehr mit Austin allein ließ, bewies das.

„N-nein... E-r-r war g-gestern-n n-noch d-da. Er w-würde m-mich nicht-t ver-verlas-sen", stotterte Austin und schlang die Arme um seinen ziemlich schlank gewordenen Körper.

Er nahm nur noch gerade so genügend Blut zu sich, um sich am Leben zu erhalten, doch bei weitem nicht genug, um auch gesund zu sein. Aber er tat sich das alles selbst an.

Boris kam zurück und wollte Austin die Decke um die Schultern legen, aber Charlie hielt ihn zurück, nahm die Decke selbst an sich und legte sie Austin dann um.

Boris sah verletzt aus. Er wollte für seinen Freund da sein und Charlie ließ ihn nicht.

Ich wusste, es war keine gute Idee, Charlie und Austin das klären zu lassen und tat deshalb, was wir immer taten, wenn wir Austin nicht beruhigt bekamen.

Ich ging zu ihm, schob Charlie zur Seite und legte meine Hände auf Austins Wangen.
Nur, weil ich spürte, dass Raphael nun auch im Raum war, konnte ich es versuchen.

Mein Plan klappte nicht wirklich. Auch die anderen schienen es zu bemerken, doch zumindest war Austin aufgrund der Verwirrung meiner Tat ruhiger geworden.
Seine glasigen Augen suchten in meinen nach Erklärung.

Diese bekam er, als Raphael sich von hinten an mich heran stellte, seine Hände auf meine legte, die noch immer Austins Wangen berührten. Nun konnte ich es tun.

Ich sah Austin in die Augen, drang in seine Gedanken ein und zeigte ihm, was die letzten drei Jahre mit Jay so passiert war. Er war tot. Das wurde Austin dadurch bewusst.

Ich konnte seine Gedanken zwar auch beeinflussen, aber das wollte keiner von uns, also zeigte ich ihm einfach nur meine Erinnerungen an die letzte Zeit, die mit seinen Problemen zu tun hatten.
Als ich damit fertig war, hatte sich alles von allein erklärt.

Raphael nahm die Hände von meinen, aber obwohl ich meine Kraft nicht mehr anwandte, ließ ich meine auf Austins Wangen, der durch die unwiderlegbare Tatsache, dass sein Freund tot war, nun noch mehr Tränen vergoss. Jedes Mal, wenn das alles passierte, war es für Austin so, als starb Jay erneut. Ich schätze deshalb hatte er gar keine Chance, darüber hinwegzukommen.

Ich strich ihm sorgfältig die Tränen weg. „Ist schon okay, Austin. Es wird besser werden, versprochen", eindringlich sah ich ihn bei diesen Worten an.

Er schniefte und ließ den Kopf einfach nach vorne fallen, sodass er auf meiner Schulter landete.

Ich umarmte ihn und sah zu Raphael.
Er blickte leidend auf seinen Freund, begann dann durch sein Haar zu streichen.

„Schlaf erstmal, bis du dich etwas beruhigt hast", flüsterte Raphael, wobei seine Augen kurz einen leichten Rotstich bekamen und Austin im nächsten Moment komplett still wurde und verdammt schwer.

Charlie fing ihn auf, bevor er mich unter sich begrub und trug ihn dann auf das Sofa.

Obwohl Austin es nicht wusste, kümmerte sich Charlie gut um ihn, er legte ihm ein Kissen unter den Kopf, er deckte ihn nochmal zu, er strich ihm die Tränen weg und gab ihm zu guter Letzt einen geschwisterlichen Kuss auf den Kopf.

Austin bekam all das nicht mit, er schlief tief und fest und würde erst wieder aufwachen, wenn sein Hirn die Informationen für heute verarbeitet hatte.

Ich sah Raphael dankbar an, er mich erleichtert.
Seine Kräfte funktionierten nicht wie meine. Er wusste nicht, wie er sie an- und abstellen konnte. Bei ihm ging das immer nach Gefühl, deshalb gab es auch Momente, in denen es gar nicht klappte oder es komplett schiefging, wenn er nicht genau sagte, was er von der Person verlangte, die er beeinflusste.

Ich war froh, dass wir Austin zusammen eigentlich immer irgendwie helfen konnten und umarmte meinen Freund im nächsten Moment.

„Danke"

Ich bedankte mich nicht nur dafür, dass er extra aufgestanden war, weil er gewusst hatte, dass ich ihn brauchte, um das volle Potenzial meiner Kraft zu nutzen, sondern auch dafür, dass er einfach da war. Dass er er war. Dass ich ihn liebten durfte.

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