*1. Luzifer

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Ein Krieg kann durch zwei Arten beendet werden.

Erstens: Die Partien bekämpfen sich, bis sie dadurch alles und jeden zerstört haben.
Das ist die häufigste Variante. So grausam. Einfach, weil keiner nachgeben möchte und blind vor Hass ist.

Die zweite Möglichkeit ist, dass Frieden geschlossen wird und keiner mehr eine Notwendigkeit zum Krieg sieht.

Hier baut die Zukunft nach den Kämpfen auf dem Willen auf, etwas Neues, Gemeinsames zu erschaffen.

Ich denke, letzteres ist das, was den Frieden langfristig wirklich sichert. Daher bin ich froh, dass Raphael es geschafft hat, allen bewusst zu machen, dass es keinen Anlass zu einem Krieg gibt.

Der Tag, an dem der Kampf ausgebrochen ist und wenige Stunden später wieder beendet wurde, ist jetzt drei Wochen her.

In dieser Zeit haben wir uns hauptsächlich darum gekümmert, den Verstorbenen ein ehrenvolles Grab zu bereiten.

Jeder hat Verluste zu betrauern. Freunde, Familie, den Geliebten. Raphael ist einer derjenigen, der am meisten verloren hat. Viele seiner Leute sind umgekommen, Vampire, die er schon sein Leben lang kannte. Aber, obwohl man Menschenleben nicht gegeneinander aufwiegen soll, ist der schlimmste Verlust für ihn Silas.

Raphael hat es noch nicht übers Herz gebracht, seine Leiche sowie die anderen einzuäschern. Wir wollten es ihm abnehmen, aber er meinte, das sei seine Aufgabe, er bräuchte einfach nur Zeit.

Ich weiß, wir alle wissen, dass er auf ein Wunder wartet. Dass er hofft, Silas würde eines Tages wieder aufstehen und alles sei wieder gut. Aber keiner von uns schafft es, Raphael bewusst zu machen, dass sich an Silas' Tod nichts ändern wird. Entweder, weil Raphael nicht zuhört, oder weil er beginnt zu weinen, wenn er es doch tut.

Gestern habe ich gesehen, wie er neben Silas' Glassarg stand, in dem er ihn aufbewahrt, so als wolle er ihn wiederverwenden. Aber die voranschreitende Verwesung des Körpers von Silas sollte genug beweisen.

Für mich war das der Anlass, mir vorzunehmen, jetzt einzuschreiten. Ich habe noch eine Woche, die ich auf der Erde verbringen darf, ehe ich zurück in den Himmel muss und meinen Pflichten als Engel nachkommen.

Einerseits freue ich mich darauf, wieder nachhause zu kommen, aber andererseits ist mir durchaus bewusst, was ich hier zurücklasse. Meine Liebe, gute Freunde. Diesen möchte ich noch helfen, solange ich kann.

Wieder befindet sich Raphael in dem Raum, in dem er einzig Silas' Körper in seinem Glassarg aufbewahrt, sitzt daneben und sieht seinen toten Freund an.

Man muss zugeben, dass der Körper noch nicht so weit verwest ist, wie er es sein sollte, was wohl mit der Aufbewahrung zusammenhängt, aber trotzdem ist er tot und das wird er auch bleiben.

„Klopf klopf", sage ich leise, während ich die Tür hinter mir schließe und auf Raphael zulaufe.

Er hebt den Blick, sieht mich an.

Kurz mustert er mich neugierig, aber dann schaut er wieder Silas an, so als täte er das nicht schon seit drei Wochen durchgehend.

Ich überlege mir schon lange die richtigen Worte und habe auch bereits mit den anderen darüber gesprochen, aber trotzdem bleibe ich eine Weile einfach so stehen und versuche mir passende Sätze zurecht zu legen.

Es wundert mich, dass er nach einer Weile das Gespräch beginnt. „Was willst du hier, Luzifer?" Es ist ein erschöpftes Seufzen, das er hervorbringt, ohne mich anzusehen.

Ich lege meine Hand auf seine Schulter und drücke bestärkend zu.

Der Junge braucht gerade allen Halt, den er bekommen kann. Und irgendwie fühle ich mich für ihn verantwortlich. Nicht, weil er mir durch seine Beschwörung eine komplett neue Chance gegeben hat, sondern einfach, weil es das Richtige ist.

Raphael hat es verdient, glücklich zu sein. Ich will dafür sorgen, dass er zumindest nicht mehr allzu traurig sein muss.

„Du musst ihn gehen lassen, Raphael" Ich spreche leise, aber nicht weniger eindringlich, damit er weiß, dass ich ihn verstehe.

Er will nicht loslassen, er kann einfach nicht. Aber er muss.

„Wieso?" Seine Stimme klingt schwach, erschöpft, verzweifelt.

„Dann wird es dir besser gehen. Mit Sicherheit nicht sofort, doch langsam aber sicher. Es ist wie eine Wunde, Raphael. Sie heilt. Aber nur, wenn du ihr auch die Möglichkeit dazu gibst. Es bringt nichts, sie mit aller Gewalt offen halten zu wollen. Der Schmerz, den du dadurch verursachst, wird unerträglich werden"

„Das ist er jetzt schon", flüstert Raphael, wohl in der Absicht, dass ich es nicht höre.

Ich atme tief durch und lege auch meine zweite Hand auf seine noch freie Schulter. „Ich bin für dich da, wir alle sind das. Deine Freunde machen sich Sorgen um dich..."

Ich stoppe, als er den Kopf schüttelt. „Ich hab es ihm so oft gesagt. So oft versprochen. Aber, wie soll er sich jemals sicher gewesen sein, dass ich ihn liebe? Ich habe es ihm nie bewiesen."

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.

Ich habe die beiden nie erlebt, wie sie in der Beziehung sind. Ich kenne sie erst seit ihrer Trennung. Ich weiß zwar, dass sich beide sehr geliebt haben, aber das ist es ja auch nicht, was Raphael so traurig macht. Es stört ihn, dass er so viele Jahre an Silas' Seite war und nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet hat, dass er diese Zeit nutzen sollte, weil sie irgendwann um sein wird.

Eine Weile stehen wir in vollkommener Stille so da, bis mir bewusst wird, dass es nur noch eine Sache gibt, die ihm helfen kann. Ich bin bisher der Überzeugung gewesen, er sei noch nicht bereit dafür, aber jetzt gerade ist es meine einzige Möglichkeit, ihm irgendwie Hoffnung zu geben.

„Silas' Seele ist im Himmel", teile ich Raphael mit.

„Ich weiß" Er nickt leicht. „Er ist da gut aufgehoben... Aber ich will trotzdem bei ihm sein."

„Das kannst du" Als ich das sage, wird Raphaels Körperhaltung etwas angespannter.

Er richtet sich ein wenig auf, dreht sich zu mir herum und steht schließlich auf. „Wirst du mich umbringen?"

Es ist paradox, wie hoffnungsvoll dieser Satz aus seinem Mund klingt.

„Nein" Ich schüttele schnell den Kopf, sehe die Enttäuschung in seinem Blick. Das schlägt, aber ganz schnell in Unglauben um, als ich weiterspreche. „Aber ich werde dir beibringen, wie du die Sphären wechseln und somit in den Himmel gelangen kannst ohne vorher sterben zu müssen."

Seine Augen werden ganz groß. „Wie soll das funktionieren?", haucht er ungläubig.

Ich lächele leicht, meine Hand tätschelt seine Wange. „Du bist zwar kein Engel im ursprünglichen Sinne, aber nah dran. Der Himmel ist genauso dein Zuhause wie die Erde es ist. Wenn du erstmal weißt, wie du zwischen beiden hin und her pendeln kannst, dann kannst du solange bei Silas sein wie du möchtest und jederzeit wieder hierher zurück kommen."

Er hat Glück. Wäre er ein vollwertiger Engel, müsste er sich den Diensten des Herren verpflichten, aber er ist eine personifizierte Grauzone und keiner kann etwas dagegen tun.

Es hängt nur davon ab, ob Raphael den nötigen Willen aufbringen wird, die Kraft, die in ihm steckt, zu nutzen.

Aber ich denke mit Silas als Ansporn stehen ihm alle Wege offen.

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